Das Gespenst hinter der Wand




Leseprobe (Kapitel 1)
1

Arissa hat blaue Haare. Ohne Quatsch! Es verschlägt mir die Sprache, ich starre sie wortlos an. Die Haare sind außerdem lang und wunderschön gelockt und passen genau zu zwei strahlend blauen Augen.
Mit diesen Augen guckt Arissa jetzt langsam von meinem Gesicht zu dem Buch in meiner Hand. Sie verzieht den Mund. Dann dreht sie sich um und sagt zu ihrer Mutter: "Der ist langweilig, der Christof."
Als wenn das nicht schlimm genug wäre, hält sie mich auch noch für taub, sonst würde sie doch nicht so unverschämt laut reden!
Ich merke, wie ich rot werde und wie mir der Mund endgültig zuklebt. Mehr als ein Hallo hab ich sowieso noch nicht herausgebracht. Mädchen mit blauen Haaren und den dazu passenden Augen sollten erst mal ihr Foto schicken, bevor sie plötzlich an der Wohnungstür stehen!
Ich klemme mir das Buch unter den Arm und marschiere ab in die Küche. Die Tür werfe ich mit dem Fuß zu. In mein Zimmer kann ich leider nicht, denn das ist auch Saschas Zimmer. Sascha sitzt jetzt da drin und macht Hausaufgaben mit einem Mädchen aus seiner Klasse. Meine Schwester Nadine will mich auch nicht in ihrem Zimmer haben.
Die können mich mal. Wenn ich ein spannendes Buch lese, ist es mir sowieso egal, wo ich bin. Aber meine Mutter hat was dagegen, dass ich mich in die Küche verzogen habe. Sie öffnet die Tür und sagt vorwurfsvoll: "Christof, was soll das? Arissa ist extra wegen dir mitgekommen!"
Das weiß ich bereits. Sie ist neun, ich bin neun, unsere Mütter sind seit kurzem befreundet, hurra, heute ist der erste Besuch. Aber hab ich vielleicht gewusst, wie Arissa aussieht und wie sie mich anschaut? Und dass sie mich gleich darauf langweilig findet?
Inzwischen ist mein Gesicht allerdings nicht mehr so heiß, und weil meine Mutter keine Ruhe gibt, stoße ich einen Seufzer aus und latsche hinter ihr ins Wohnzimmer.
"Aber ich will lesen", zische ich ihr zu.
Arissa und Anne stehen noch herum. Ich verdrücke mich unauffällig in die Ecke hinter dem Fernseher. Dort liegt mein Kissen. In der Ecke ist es ziemlich eng. Der Fernseher und eine große Grünpflanze sorgen dafür, dass man fast nicht gesehen wird und sich wie in einer Höhle fühlt. Zufrieden klappe ich mein Buch auf. Wenn ich ein bisschen schiele - so zwischen den Blättern der Pflanze hindurch -, habe ich einen Blick auf Arissas blaue Haare.
Arissa macht jetzt ihren Zeigefinger nass und dreht an einer Locke herum. Anne und meine Mutter reden über den Yogakurs, bei dem sie sich kennen gelernt haben. Meine Mutter gießt Tee in hauchdünne Tassen, die auch irgendwas mit dem Yogakurs zu tun haben müssen, denn sie sind neu.
"Christof, es gibt Tee!"
Ich stelle mich taub.
"Christof!"
"Ach, lass mich doch lesen, Mama", brumme ich.
Daraufhin berichtet meine Mutter leise davon, was ich für eine Leseratte bin und dass ich am liebsten gar keinen um mich habe und dass sie eigentlich überhaupt nichts von mir weiß.
Richtig, du, denke ich. So soll´s auch bleiben!
Komischerweise kann ich mich heute aber nicht auf mein Buch konzentrieren, ich muss irgendwie immer zuhören. Ob das an Arissa liegt?
Unsere Mütter bestätigen sich gerade gegenseitig, dass man Kinder am besten in Ruhe lässt. Die Kinder spielen und reden angeblich von selbst miteinander, wenn man sich nicht einmischt.
Da können sie bei Arissa lange warten. Die guckt nicht einmal in meine Richtung! Sie erzählt jetzt meiner Mutter, wie das mit ihren Haaren war. Dass die eigentlich schwarz sind. Man musste sie zuerst hellblond färben, damit das Blau überhaupt möglich war. Anne nickt eifrig dazu.
Mich würde ja interessieren, was sie mit Arissas Augen gemacht haben. Oder ob die schon immer so blau sind. Aber ich verkneife mir die Frage.