Der Verdiener




Pressestimmen
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Sie ist etwa 50 Jahre alt und erwartet nichts mehr. Die Urne mit der Asche ihrer Tochter im Arm steht sie am Grab auf einem Dorffriedhof in der Mark Brandenburg. Emotionen, die aus ihrem eigenen Körper aufsteigen, weist sie zurück. Plötzlich verselbständigen sich ihre Gedanken und wandern zurück, etwa 25 Jahre:

Voll Hoffnung, bereits schwanger, hatte sie damals ihren Mann Udo geheiratet, doch schon nach wenigen Jahren wurden die ersten Anzeichen einer Erbkrankheit sichtbar, die ihn zuerst tollpatschig, dann arbeitsunfähig, schließlich bettlägerig, hilflos und pflegebedürftig bis zu seinem qualvollen Ende machten. Zwischen Geld verdienen, Kind aufziehen und Pflege des Mannes nützte sich ihre Lebenskraft und ihre Beziehungsfähigkeit ab. Als schließlich der Mann starb, entdeckte sie für sich und ihre schöne Tochter Bettina eine neue Freiheit des Genusses, träumte die Träume von einem geglückten Leben mit den Versatzstücken der Konsumgesellschaft, gönnte sich ein bisschen Liebe und Reisen innerhalb der für DDR-Bürger gesetzten Grenzen.
Es dauerte nicht lange, da betrog sie die Tochter nicht nur mit ihrem eigenen Freund, sondern diese trat auch in das väterliche Erbe ein. Die geschickte Serviererin stolperte in die Krankheit und in das Siechtum. Von neuem wurde der Frauenalltag bestimmt durch Arbeit, um Geld zu verdienen und durch Pflege. Da entlastete auch die Rückkehr von Berlin ins Dorf der Kindheit zu den Eltern wenig. Die Mutter holte sich als "Held der Arbeit" auf einer Flugreise nach Moskau eine tödliche Krankheit, der Vater fiel bei Ausbesserungsarbeiten vom Kirchendach in den Tod.
Das unheimliche tödliche Erbe vollzog sich an Bettina, während sich die politischen Verhältnisse durch den Mauerfall in eine neue vielversprechende Zukunft wendeten.

Das war ihr Leben. Ihre Zukunft ist zur Vergangenheit geworden. Der Traum vom geglückten erfüllten Leben ist ausgeträumt.
Plötzlich steigt aus dem Arm, der die Urne birgt, die Erinnerung an die erste Zeit mit Tini empor. Zur Leere im Kopf gesellt sich tropfenweise die Liebe, die sie mit ihrer Tochter verbindet und die tief drinnen in ihrem Leib gespeichert war.

Diese Geschichte erzählt uns Irma Krauß aus Bayern, die dafür hier und jetzt im Rahmen dieses Festes den ersten neugeschaffenen FRAU AVA LITERATURPREIS empfangen soll.

Damit tritt sie in eine 900-jährige Schreibtradition ein, die hier am Fuße des Göttweigerberges, möglicherweise vom ehemaligen Frauenkloster hier in Kleinwien, von einer Frau ausging, von Frau AVA. Diese verließ - für eine Frau des Hochmittelalters eher ungewöhnlich - die Anonymität, indem sie ihr bibelepisches Gedicht Das jüngste Gericht selbstbewusst mit ihrem Namen beschloss dieses buoch dihtote zweier chinde muoter........die heißt AVA . Die gebildete Frau, des Lesens und Schreibens kundig, verwendete im 12. Jahrhundert erstmalig eine deutsche Regionalsprache, Dialekt würden wir sagen, nämlich das Mittelbairische, für ihre Schriften, obwohl das Lateinische d i e Literatursprache vor allem der Männer der Zeit war.

Das Rinnsal der Erinnerung - ein Ausdruck von Christa Wolf für die Überlieferung von Frauengeschichte - machte es uns möglich im 21. Jahrhundert an diese große Frau anzuknüpfen und unter ihrem Namen mit diesem Literaturpreis ein Zeichen zu setzen.
Über die Jahrhunderte hinweg haben sich die Themen und die literarischen Ausdrucksweisen weiblicher Identität in Entsprechung zu und als Auflehnung gegen politische und gesellschaftliche Vorgänge vielfältig gewandelt. Die Entwicklung der literarischen Szene der letzten drei Jahrzehnte haben schreibkundige Frauen, Schriftstellerinnen, dynamisch vorangetrieben; über neuartige emanzipatorische, dokumentarische, poetische, ästhetische Konzepte war es nach und nach Frauen möglich, ihre Stimme mit ihrer Sprache zu erheben, gleichzeitig haben auch manche Selbststilisierungen zu absurden Entwicklungen und Missverständnissen im Bereich der sogenannten Frauenliteratur beigetragen.

Um die Möglichkeiten weiblichen Schreibens und die gesellschaftliche und spirituelle Rolle der Frau in unserer Zeit und unserer Gesellschaft noch weiter auszuloten und immer genauer zu beschreiben, wendet sich der FRAU AVA LITERATURPREIS nur an Frauen.

Was macht nun einen Text zum preisgekrönten Text?
Was hat die Jury bewogen, einhellig diesem Text vor 66 anderen Mitbewerbungen den Vorzug zu geben?

Das Besondere an dieser Geschichte Der Verdiener ist, dass Irma Krauß zwar den traditionellen Typus einer enthüllenden analytischen Erzählung eines Frauenschicksals aufgreift, aber einen überraschenden Drehmoment findet, indem eine ureigene Körpergebärde die Erinnerung in Gang setzt. Eine Frau, die sich nicht mehr spürt, die ihre Gefühle verdrängt, weil sie sonst vermutlich fortwährend schreien müsste, erfährt im allerletzten Augenblick durch die Weisheit ihres Körpers, der die bergende Geste für immer gespeichert hat, tröstliche Beziehung. Jene Beziehung, die es ihr erst möglich macht, sich als ein Individuum mit eigener Identität zu erkennen und nicht nur als gebranntes Kind, Verdiener und Manager und alles . Funktionieren war fast alles, aber doch nicht alles in ihrem Leben.

Ein weiblicher Hiob - die Hauptfigur erzählt als Chronistin ihres eigenen Lebens unparteiisch und unspektakulär banale Alltagsgeschichten und dabei die fürchterlichsten Wahrheiten über sich, ihre Mitmenschen und die Gesellschaft. Wer sich das Leiden, die Passion eines Frauenlebens mit Heulen und Zähneknirschen erwartet, geht leer aus. Diese Hiobin überlässt das Klagen der Leserin, dem Leser durch die schweigenden Zwischenräume ihrer lakonischen Redeweise, in denen das Grauen sich einnisten kann. Von Gott kann sie sich nichts erwarten. Er ist nicht undenkbar für sie, aber selbst im Zweifel fehlt die Bindung an ihn. Wie sollte sie sich an ihm orientieren? Ihre Eltern hatten noch an ihn geglaubt, aber das konnte den Vater auch nicht vor dem Absturz vom Kirchendach retten.

Eine spannende negative Theologie schimmert durch diesen Text, mit dem sich die Autorin zur Anwältin weiblicher Not macht, nicht nur zu der ihrer Hauptfigur. Mich erinnert sie ein wenig an den Propheten Ezechiel, der zu seiner Sendung die Schriftrolle, auf der alle Klagen, Seufzer und Weherufe der Menschheit geschrieben stehen, vom Herrn zu essen bekommt.
Und anspruchsvolle Literatur enthält wohl auch eine prophetische Dimension.

Eine ungeheure Herausforderung an diese Erzählung stellt die gegenläufige Dynamik zwischen der Entwicklung der Lebensgeschichte der Ich-Erzählerin und der politischen Entwicklung des Landes der DDR dar. Wendezeit: persönlich und politisch. Während die innere Freiheit der Frau immer mehr abnimmt und die Abhängigkeiten von den Bedürfnissen und Launen ihres dahinsiechenden Mannes und später ihrer Tochter immer größer werden, nehmen die politischen Möglichkeiten im Ostdeutschland der Wendezeit immer mehr zu. Was nützt ihr die politische Freiheit, die Möglichkeit weit zu reisen. Die Freiheit, die sie sich ersehnt, bleibt für sie ein unerreichbarer Traum.

Der Entfremdungsprozess der Frau geht nahe, erschüttert. Der Autorin gelingt es, ein schwieriges Sujet in klarer Sprache und sicherem Ton zu gestalten. Dabei erweist sie sich formal souverän, genau in der Beobachtung der Figuren und stark im Gebrauch der knappen präzisen Sprache. Die Kraft des sprachlichen Bildes, die poetische Metapher, mit der sie diese Parabel menschlichen Lebens, insbesondere weiblichen Lebens wendet, ergreift. Die tropfende Erinnerung an das Kind, das sie geliebt hat, benetzt und belebt nicht nur die Frau mit der Urne im Arm, sie nährt auch die Hoffnung der Leserin, des Lesers.

Und dafür, liebe Frau Irma Krauß, erste FRAU AVA LITERATURPREISTRÄGERIN, möchte ich Ihnen, auch im Namen der Jury, danken."
Dr. Erika Schuster, Literaturwissenschaftlerin, Präsidentin der Europäischen Föderation für Katholische Erwachsenenbildung.
 

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Laudatio zum Frau Ava Preis 2003 für Irma Krauß