1
DAS LABORGLAS
Eine wunderbar wilde und einmalige Liebe, die genau genommen mit einem Laborglas begonnen hat, endet tragischer Weise mit einer Leiche.
Wo liegt die Leiche? Sie liegt in keinem Wald, in keinem Bett, überhaupt nicht in einer Wohnung. In keinem Flur, Hauseingang oder Treppenaufgang. An keiner Straße, in keinem Hinterhof, auf keinem Schrottplatz. Auch nicht im Leichenschauhaus und noch lange nicht auf dem Friedhof. Sie liegt weder auf einsamen Bahngleisen noch im Laderaum eines Lieferwagens, weder auf einer Dachterrasse noch im Park. Es gibt ja so viele Möglichkeiten. Aber für diese Leiche scheiden sie alle aus.
1:50 Uhr. Der General Manager des Fünf-Sterne-Hotels mag es, nachts noch einmal durch die nun beinahe leere Halle zu gehen und dem Personal zuzunicken – in einer Ecke plaudern die letzten Gäste, der Pianist ist schon weg, er hat den Flügel um Mitternacht geschlossen –, mag es, seinen Weg zur Treppe zu nehmen, die sich von zwei Seiten in die Halle schwingt, gleitet mit leichter Hand über die Balustrade, während seine polierten Schuhe in den Teppich der Stufen sinken, mag es, sich im Spiegel des Zwischengeschosses hinaufsteigen zu sehen, bevor er der Treppenwendung folgen und schließlich über die breite Brüstung in die Halle hinabblicken wird.
Vollendete Schönheit überall: gedämpfte Farben und großzügige Weite. Kühne Lampen und schimmernder Glanz, wo immer ihr Licht einen Punkt, eine Fläche erreicht. Aus unsichtbaren Lautsprechern leise Musik, die das entspannte Gesprächsmurmeln der späten Gäste untermalt. Tausend Lichtreflexe in den Gläsern und Flaschen der Hallenbar. Und hinter den haushohen Glaswänden das rotbunte, bewegte Leuchten der Stadt.
Der General Manager hält für einen Moment an der Treppenwende inne, im Zwischengeschoss. Noch ein kleines Vergnügen, das er heute mitnehmen will: durch die blaue Bar zu streifen, die wie eine Insel in die Halle schwingt und die man auch wie eine solche betritt. Über die umlaufende, mit Stoff bezogene, mannshohe Wand fällt sanftes Licht in ihre blaue Dämmerung aus Sofas und Sesseln.
Die blaue Bar steht den Gästen auch dann zur Verfügung, wenn sie nicht in Betrieb ist. Für ein Platznehmen abseits des Kommens und Gehens auf der Treppe und in der Halle. Für eine zurückgezogene Lesestunde bei Tag, nachts ist es zu dunkel zum Lesen. Für verborgenes Zuhören, wenn der Flügel gespielt wird.
Nun aber liegt hier eine Leiche lang ausgestreckt auf einem Couchtisch. Als Unterlage das blaue Tuch, das sonst die Bartheke bedeckt, den Kopf auf einem blauen Polsterkissen, die Hände flach zu beiden Seiten des Körpers, als wäre dies eine Entspannungsübung. Blaue Sessel umgeben die Leiche und bieten ihr wie gefällige Tabletts Dinge dar.
Das Arrangement fügt sich perfekt in die noble Umgebung ein. So perfekt, dass der General Manager nicht einmal übermäßig erschrickt, sondern nur lautlos näher tritt, mit dem scheinbar beiläufigen Blick dessen, der unauffällig prüft, ob auch alles zur Zufriedenheit vorbereitet wurde. Dann reißt er aber doch die Augen auf und weicht zur Bartheke zurück, wo er blind nach dem verborgenen Schalter für die Wandleuchten tastet. Vierzehn Schirmlämpchen flammen auf und tauchen den Raum in mildes Licht.
Der General Manager nähert sich der Leiche erneut. Von allen Dingen, die sie auf blauen Polstertabletts umgeben, springt ihm als Erstes ein Laborglas ins Auge.
Das Laborglas steht auf einer Laderampe. Dahinter ist der Gummilappeneingang der Warenannahme der VEGA-Hartmetall GmbH.
Die Sonne bescheint die pissgelbe Flüssigkeit im Glas und das Ding leuchtet vor dem schwarzen Hintergrund der Gummilappen wie eine Ampel.
Amanda stößt rückwärts in eine freie Lücke in der Autoreihe gegenüber, um vorwärts wegfahren zu können, sobald sie ihre Ware abgeliefert hat. Sie grinst über das gelbe Ampelchen.
Ob bei denen die Toilette kaputt ist?
In dem Moment, in dem sie sich zu ihrem Päckchen auf dem Beifahrersitz beugt, hört sie ein mahlendes Geräusch und etwas rast vorüber. Sie fährt hoch.
Ein Skater. Er ist von der Straße gekommen, überquert den Platz und schießt drüben über einen Treppenabgang hinaus ins Leere.
Amanda springt aus dem Wagen und reckt den Hals. Der Skater ist nach einer wirbelnden Drehung des Bretts auf einem Fußweg gelandet. Dort fährt er ein Stück weiter, wendet dann und rollt zurück. Am Fuß der Treppe kickt er das Brett, fängt es und nimmt die Stufen praktisch in einer einzigen Bewegung. Oben setzt er das Brett ab, steht schon wieder darauf und rollt über den Platz. Vor der Rampe noch eine Drehung, dann düst er zur Straße und verschwindet um das Gebäude herum.
Amanda vergisst, was sie vorhatte, und starrt ihm hingerissen nach. Man weiß ja normalerweise, wen man an einem solchen Ort erwarten kann ... Also, bestimmt keinen Superklasseskater!
Dann erinnert sie sich wieder an ihr Päckchen. Sie bückt sich mit einem kleinen Seufzer ins Auto.
Und genau da kommt der Skater zurückgeschossen.
„He, Bravo! Ich denk, du bist mit deiner Pisse direkt ins Labor!“, ruft eine Stimme vom Wareneingang her.
Amanda, die sich rasch aufgerichtet hat, sieht zwischen den Gummilappen einen Kopf.
Der Skater kantet das Brett und steht. Dann schlendert er wie ein normaler Mensch auf die geparkten Autos zu, öffnet einen Kofferraum und wirft das Skateboard hinein.
„Ich geh schon, Mann“, knurrt er.
„Du brichst dir garantiert mal das Genick!“, wiehert der andere.
Der Skater checkt seine Uhr. „Drei Minuten! Was soll das Gedöns? Hau ab, Mann, ich geh ja schon.“
„ ... Die Chefs gucken aber auch nie nach hinten raus – denen müsste man vielleicht einen Tipp geben ... Was hältst du davon, he, he?“
Der Kopf verschwindet und die Gummilappen pendeln aus.
Der Skater nimmt das Laborglas von der Rampe und dreht sich um, da steht Amanda vor ihm.
Amanda mit dem Päckchen, er mit dem Glas. Die gelbe Flüssigkeit schwappt erschrocken zum Rand. Amanda reißt das Päckchen hoch, der Skater drückt die Hand aufs Glas.
„Das war knapp!“, sagt sie und lugt hinter dem Päckchen hervor. Dann wird sie unaufhaltsam rot, genau wie er, eine Hitze breitet sich aus, die irgendwie überspringt und zurückschlägt, und das ist so ziemlich das Seltsamste, was ihr je bei einer ersten Begegnung passiert ist.
Der Typ spürt es ebenfalls, sie findet das Staunen für einen Moment in seinen Augen, bevor er den Blick nach unten klappt und nachsieht, ob das Glas noch da ist. Seine Haare sind eine Spur dunkler als ihre, fast schwarz, kurz geschnitten, aber lang genug, um sich im Nacken verschwitzt zu kräuseln. Amanda schaut ihm verstohlen auf die erröteten Wangen, die muskulösen Unterarme, die Hände, auf sein Shirt, auf die schwarze Jeans. Sie zoomt den feinen, grauen Metallstaub, der ihm in jeder Pore sitzt, ins Riesengroße. Jede Pore ein Krater, jedes Härchen knistert.
Jemand hat einen Kreis um sie beide gemacht, die Welt verschwindet, der Kreis ist ein Magnetfeld.
Nur will der Typ leider raus.
Er stößt etwas hervor, gerade als auch Amanda den Mund aufmacht. „Das muss ins Labor!“
„Ich muss das abgeben!“
Zwei Salven, gleichzeitig gefeuert. Sie lacht.
Der Skater nicht. Er schafft den Schritt und geht auch schon zur Treppe.
„Ist das wirklich Pisse?“, ruft sie. Seine schönen, schönen Lippen, jetzt sind sie weg.
„Nein, Öl aus der Vakuumpumpe.“
Sie läuft ihm nach. „Ach, ehrlich? Öl? Und was machst du damit?“
Diese Lippen, die hat sie schon mal gesehen ...
„Im Labor prüfen lassen, was da nicht stimmt. Die Farbe ist komisch. Und es stinkt ...“, sagt er nach hinten, ohne wirklich langsamer zu gehen.
Die drei Minuten?
„Ach so“, sagt Amanda. „Ach so.“ Und ruft schnell: „Da drüben, das ist mein Wagen.“ Als er sich umdreht, schießt sie mit ihrer Hand nach vorn.
„Amanda Flori.“
Der Skater nimmt das Laborglas in die Linke und kriegt die Rechte frei. „Pravdan Milanovic.“ Er lässt ihre Hand gleich wieder los, um das Glas zu wechseln, als hätte er sich daran verbrannt.
„Pravdan ... Milanovic“, wiederholt Amanda. Sie runzelt die Stirn. Sie konzentriert sich. Ihr fällt aber nichts ein. Und Pravdan Milanovic hier zählt entweder die paar Treppenstufen und überlegt, ob er sie im Sprung nehmen soll, oder er zerbricht sich den Kopf über die großen Rätsel der Welt.
„Wo geb ich das ab?“ Amanda schwenkt ihr Päckchen in sein Blickfeld, sie rechnet mit dem Sprung.
„Da.“ Eine knappe Kopfbewegung zur Rampe hin. Die schönen Lippen zucken einmal, Lächeln ist es keins. Der Skater dreht sich endgültig zur Treppe um, die Hand über dem Glas. Er hat wirklich nicht ein einziges Mal, nicht das allerkleinste Mal gelächelt.
Amanda sieht ihm nach, bis er durch eine Tür des Firmenkomplexes verschwunden ist. Dann beguckt sie sich ihre rechte Hand. Sie steckt die Nase in die Handfläche.
Penetranter Ölgestank.
Sie atmet tief ein.
Pravdan Milanovic, woher kenn ich dich ...
2
DIE SÄGEZÄHNE
1:55 Uhr. Der General Manager, der in seinem 5-Sterne-Hotel zuvor noch keine Leiche liegen hatte, ist ein beherrschter, kontrollierter Mensch. Als solcher hat er im Dienst noch nie die Stimme gehoben. Er schreit auch jetzt nicht. Er nimmt nach einem Zeitraum von unbestimmbarer Dauer die leise Musik aus den Hallenlautsprechern und die murmelnden Stimmen der Gäste wieder wahr. Und erschrickt endlich. In einem Reflex stellt er sich vor die Leiche, das Gesicht dem Ausgang der blauen Bar zugewandt, und horcht voller Angst.
Doch niemand kommt die Treppe herauf – er käme denn lautlos. So wird wohl auch keiner in diesem und im nächsten Augenblick auf halber Höhe, an der Kehre, sich der blauen Bar zuwenden, die leider keine Tür hat.
Der General Manager weiß nicht, ob er sich wünschen soll, dass die späten Gäste auch noch den Rest der Nacht in der Halle verplaudern; einerseits möchte er, dass sie genau da sitzen bleiben, wo sie jetzt sind, andererseits wünscht er sie in ihre Betten, damit er die Polizei verständigen kann. Die Kripo kommt in Zivil ... Aber die Kamera, die Spurensuche, das alles geht wohl kaum ohne Aufsehen ab. Und dann wird man vermutlich die Gäste befragen wollen ... Bei diesem Gedanken stöhnt der General Manager nun doch auf, aber verhalten, wie nur ein kontrollierter Mensch aufstöhnen kann.
Es hilft nichts, er muss handeln.
Nur eine Minute will er sich noch gönnen, um die Dinge zu begutachten, die der Leiche auf den im Ring angeordneten Sesseln dargeboten werden.
Neben dem Laborglas liegt ein Häufchen sanft schimmernder Metallzähnchen, alle gleich, alle glatt poliert. Es sind genau vierunddreißig Stück, was der General Manager allerdings nicht wissen kann, denn um sie zu zählen, müsste er das Häufchen mit dem Finger zerteilen.
Er wird sich hüten, etwas anzufassen.
Bravo stellt das Glas neben Franziskas Mikroskop ab.
Franzi sieht auf. „Nicht schon wieder!“, sagt sie.
„Doch. Schau’s dir mal an.“
„Ich bin mitten im Sinterprotokoll!“ Sie schiebt den Objektträger mit der Knetmasse, in der ein Metallteilchen steckt, unters Mikroskop. „Geh zu Judith.“
„Gib her“, sagt Judith und streckt die Hand nach hinten.
Sie nimmt das Glas, schnuppert vorsichtig daran, sagt „Pfui Teufel!“ und stellt es außer Reichweite. „Will das nicht zufällig mit meinem Tee verwechseln ... Öh – suchst du was, Bravo?“
„Hm? Nein.“ Bravo wendet sich ein wenig hastig vom Fenster ab und geht zur Tür.
„Du kannst warten, ich mach’s gleich“, sagt Judith. „Nur noch das hier.“ Sie deutet auf eine Zahlenreihe auf ihrem Bildschirm.
„Okay. Bin kurz draußen.“ Bravo verlässt das Labor und läuft zum Parkplatz vor der Warenannahme.
Der Minicooper ist weg.
Klar ist er weg, sagt sich Bravo und staunt über das erbärmliche Verlustgefühl, das ihm die Schultern nach unten zieht.
Als er mit dem Laborbericht in die Halle zurückkehrt, geht er zuerst zum Regal hinter den Gummilappen.
Päckchen und Pakete, die zum Verschicken bereit liegen.
„Suchst du was, Bravo?“, fragt Dominik, der eine leere Palette durch die Gummilappen nach draußen schiebt.
„Hat man nicht vorhin was abgegeben, was Kleines ...“
„Ja, per Eilboten. Ist schon beim Chef. Die Reklamation.“ Dominik gibt der Palette noch einen Stoß mit dem Fuß. „Ich hab ja schon Sachen gehört. Aber dass sich die Sägezähne beim Belastungstest verbiegen – nee.“
„Nee“, stimmt Bravo geistesabwesend zu. „Aber welcher Dienst ... ich meine, welcher Botendienst hat das denn gebracht?“
Dominik grinst plötzlich breit. „Mann ...! Ich hab das Päckchen angenommen ... He, Bravo, ich weiß, was du meinst! Nee, also die Frau, hab ich gedacht, muss sich verlaufen haben!“
„Welche Frau?“, sagt Bravo und geht mit seinem Laborblatt weiter.
Dominik ruft hinter ihm her: „Wenn du die Sendung zurückverfolgen willst – der Zettel ist auch beim Chef!“
Bravo braucht mehrere Stunden, bis er wieder er selbst ist.
Am Abend, auf dem Brett, konzentriert er sich einmal nicht auf Stufen, Betonmäuerchen und Geländer, sondern düst wie ein Anfänger kreuz und quer durch seine Provinzstadt, auf der Suche nach einem metallicblauen Minicooper. Obwohl das idiotisch ist, denn zu neunundneunzigkommaneun Prozent kam der Botendienst von auswärts, vielleicht von dort, wo der Kunde sitzt, oder von einer Übergabestelle.
Für das eine Zehntelprozent schwitzt Bravo auf seinem Brett. Auch noch, als es dunkel ist und man ein Metallicblau bestenfalls unter einer Laterne ausmachen kann.
Zum Chef gehen und den Botendienst zurückverfolgen – nein, kommt nicht infrage.
Bravo hat in der Nacht einen Traum. Beim Aufwachen weiß er, dass etwas gründlich falsch war: Man kann nicht auf dem Skateboard über die Autobahn brettern, im Zickzack über drei Spuren hinweg, man kann nicht auf die Mittelplanke springen und dort entlanggleiten, um auch den Gegenverkehr zu beobachten, so etwas ist im richtigen Leben einfach nicht möglich.
Im richtigen Leben geht man zur Arbeit, sortiert Sägezähne und andere Metallteile auf Graphitplatten, stapelt die Platten und fährt das Material zum Sintern in den Ofen.
Im richtigen Leben wird man auch mit Verlustgefühlen fertig.
Aber ein verflucht schöner Traum war es. Denn in jeder Sekunde hätte es sein können, dass der metallicblaue Mini Bravos Zickzackkurs kreuzt.
„Pravdan Milanovic?“, ruft die bullige Frau Henning von der Verpackungsabteilung. Sie stampft durch die Halle, an Arbeitstischen und Regalen vorbei, um computergesteuerte Brennöfen, Pressen und Schneideanlagen herum und hat einen Brief in der Hand.
„Heißt einer von euch Pravdan Milanovic?“
„Nee“, ruft Luca von der Pressanlage herunter, wo er die Granulatzufuhr prüft. „Nee, Frau Henne. Hier biste richtig falsch.“
Bevor die Frau sich aufplustern kann, ist Bravo bei ihr.
„Zeig mal“, sagt er leise.
Auf dem wasserblauen Briefkuvert steht über der Firmenadresse Pravdan Milanovic. Eine schwungvolle, nach links fallende, sehr besondere Schrift.
„Das ist für mich“, sagt er.
„Für dich, Bravo?“ Frau Henning hält den Brief fest und tritt einen Schritt zurück.
Die nächsten Sekunden sind übel. Denn die Frau beschallt diesen Teil der Halle über das Dauerbrummen der Maschinen hinweg mit der Auskunft, dass sie da einen komischen Brief hat, einen Brief ohne Absender, einen verdammt verdächtigen Brief für einen gewissen Pravdan, der sonst Bravo heißt. Also, für sie sieht das original wie ein Liebesbrief aus! Wenn das keiner ist! So eine Schrift!
Die Henne kräht wie ein Gockel und schwenkt den Brief.
Bravo ist schnell, er hat ihn. Doch schon rücken ihm die Jungs auf die Pelle.
„Zeig, Bravo!“
„Verpisst euch.“
„Neehe. Nix da. Mach mal, Bravoface! Los!“
Bravo verdreht die Augen. Er befühlt den Brief. Er reibt ihn zwischen den Fingern und macht graue Flecken drauf. Viel kann da nicht drin sein. Genau gesagt, vielleicht gar nichts.
Plötzlich ist ein freundliches Taschenmesser da.
Bravo zuckt mit den Schultern und schlitzt das Kuvert auf.
Es ist leer. Es ist wirklich leer!
Außer dass auf der Innenseite an einer Stelle etwas sehr Kleines geschrieben steht.
Bravo spreizt das Kuvert und lässt die Leute hineingucken, die Finger sauber auf dem winzigen Namen und der winzigen Nummer.
„Kranke Typen.“ Er zerknüllt das Kuvert, schiebt die Papierkugel schön in die Hosentasche und macht sich dann mit hoch rotem Kopf wieder an die Arbeit – das heißt, er stößt eine Serie Sägezähne von einer Graphitplatte, bückt sich, um sie vom Boden aufzusammeln und fährt eben noch zurück: Er selbst hat sie vor wenigen Minuten aus dem Sinterofen gefahren, wo sie ihre gut vierzehnhundert Grad abkriegten, und man spürt auf einen Meter Abstand, dass sie heiß sind.
Aber eigentlich ist er zurückgezuckt, weil ein paar Zähnchen wie ein A daliegen. Doch, ja. Bei etwas Fantasie.
Kurz vor Arbeitsschluss muss er in die Galvanik und greift im Vorübergehen mal eben schnell in den Metallkorb mit den glänzenden, fertig beschichteten Sägezähnen und versenkt seine Faust in der Hosentasche.
An diesem Abend bleibt das Skateboard im Kofferraum. Bravo fegt mit dem Unterarm eine ausreichend große Fläche auf seinem Couchtisch frei, deponiert seine Zungenspitze im Mundwinkel und ein Häufchen Sägezähne auf dem Couchtisch und formt mit zwei Fingern Buchstaben. Aus vierunddreißig Sägezähnen zaubert er ein schimmerndes Wort.
AMANDA.
Er starrt das Wort lange an. Dann legt er sein Handy dazu und tippt die Nummer ein. Und starrt das Display an. Und wechselt wieder zu den glänzenden Buchstaben. Bis sie ihm wie Sterne vor den Augen tanzen.
Drei Tage sind vergangen, seit Amanda den Brief eingeworfen hat. Nein, nicht vergangen, sondern Minute für Minute quälend vorübergeschlichen. Und das bei diesem Job, diesem Fahren gegen die Zeit, dieser Zwölf-Stunden-Maloche. Hat er ihn schon gekriegt? Wie machen die das dort mit der Post, wer gibt die aus? Oder wird sie ins Fach gelegt? Schaut er überhaupt in sein Fach rein? Hab ich die Nachricht nicht doch zu winzig geschrieben? Wer checkt um Himmels willen das Innere von einem Kuvert?
Weggehen ist nicht mehr wichtig, Freunde und Bekannte sind bedeutungslos geworden, ja, auch Jonas irgendwie, und die Familie war es vorher schon.
Kati und Lars, die mit Amanda die Wohnung teilen, merken nichts, sie sind neuerdings zusammen, aber Amanda fragt sich warum, denn sie streiten sich noch mehr als vorher schon. Die beiden haben genug mit sich selbst zu tun. Außerdem sehen sie natürlich das Handy nicht, das die ganze Nacht neben ihrem Kopfkissen liegt.
Morgen. Morgen bestimmt!, denkt Amanda vor dem Einschlafen. Vom Aufwachen an geht sie die Möglichkeiten durch: Entweder er ruft an oder er ruft nicht an. Im zweiten Falle gibt es Erklärungen:
Er hat den Brief nicht bekommen.
Er hat nur ein leeres Kuvert bemerkt.
Er hat eine fantastische Freundin, was ja völlig logisch wäre. Doch genau davon will Amanda nichts wissen.
Es gäbe noch die Variante, dass er sie für eine Tusse hält oder hässlich findet. Tusse, ja, hässlich, nein.
Tusse ganz sicher.
Am dritten Abend wimmelt Amanda Jonas an der Wohnungstür ab, sie fühle sich krank oder irgendwas, er solle sie einfach nur schlafen lassen und bitte, ja, am besten allein. Sie macht genau die Sorte genervtes Gesicht, die ausreicht, dass er abzieht, ohne sich zu große Sorgen zu machen. Jonas – wer war das doch gleich?
Am vierten Tag, es ist Freitag, meldet sich Amanda krank. Irgendwer wird die Tour schon übernehmen, sie ist heute ihre eigene Eilzustellung und fährt die fünfzig Kilometer auf ihre Rechnung.
Der Sender im Autoradio liefert den richtigen Beat zu ihrem Herzklopfen und sie erwischt sich permanent bei einem albernen nervösen Grinsen.
Vor der VEGA-Hartmetall GmbH findet sie eine freie Lücke bei der Warenannahme und setzt den Wagen rückwärts rein.
Komisches Gefühl.
Hier war ich schon mal.
Vor vier Tagen.
Genau hier.
Irre.
An der Rampe steht ein Lkw. Der Fahrer lädt ein Fass ab. Sonst ist niemand zu sehen.
Amanda steigt aus und verschwindet, bevor jemand fragen kann, warum sie hier parkt. Der Firmenkomplex liegt an der Hauptstraße, gegenüber einer Tankstelle, doch mit Zufahrt von der Seitenstraße her. Sie folgt der Seitenstraße bis zur Hauptstraße, überquert sie und geht in den Tankstellenshop. Sie holt sich einen Becher Kaffee und trägt ihn zu einem Stehtisch hinter der Schaufensterscheibe. Von dort aus kann sie mit etwas Mühe über die Straße und die parkenden Autos hinweg die Rampe beobachten.
Der Lkw ist verschwunden, das Fass steht noch da.
Amanda trinkt ihren Kaffee sehr langsam. Sie schmettert einen Anbaggerversuch ab und spielt mit Hingabe Detektivin.
Plötzlich bewegen sich die Gummilappen. Sie kneift die Augen zusammen. Jemand fährt das Fass mit einem Hubwagen hinein. Aber es ist nicht Pravdan.
Amanda holt sich noch einen Kaffee.
Eine Zigarette wäre schön ...
Sie wühlt bereits in der Umhängetasche, als ihr einfällt, dass sie seit heute nicht mehr raucht.
Drei Kaffees, eine Packung Diätkekse, mehrere Kaugummis und viele Seitenblicke der Kassiererin später fährt Amanda zusammen: Pravdan!
Er springt von der Rampe und will zu seinem Wagen.
Auf halbem Weg bleibt er wie vom Blitz getroffen stehen.
Er hat den Mini, ihren metallicblauen Eisvogel, entdeckt.
Amanda macht einen Schritt zurück. Sie findet ein Regal und fächert durch Chipstüten, während sie ihn nicht aus den Augen lässt. Ihr Herz klopft.
Pravdan entschließt sich, etwas zu tun.
Er schlendert zu ihrem Auto.
Er findet es leer.
Er fängt an, sich unauffällig umzusehen.
Bis zur anderen Straßenseite reicht sein Blick nicht.
Noch nicht.
Aber er geht zum Gehsteig hinaus, wo er die Seitenstraße einsehen kann. Zu diesem Zeitpunkt steht Amanda hinter dem Regal, denn er könnte ja bis zur Kreuzung kommen.
Hinter dem Regal ist sie auch, als Pravdan zum zweiten Mal auf der Rampe erscheint. Und beim dritten – seine Abstände werden kürzer – und vierten Mal wieder, denn sein Blick reicht jetzt über die Straße.
Die Kassiererin steht sichtlich kurz davor, sie anzuschnauzen, als Amanda endlich beschließt, dass es genug sei. Sie verlässt den Laden, überquert die Hauptstraße, läuft zu ihrem Auto und setzt sich schnell hinein.
Uff!
Falls er jetzt auftaucht, kriegt sie kein Wort heraus ...
Aber hoffentlich taucht er auf!
Sie startet den Wagen, fährt aus der Lücke und bleibt im Leerlauf stehen, die Hand auf der Schaltung, bereit, den Gang einzulegen im Moment, in dem sich die Gummilappen bewegen. So tun, als würde sie gerade ausparken, ihn dann plötzlich sehen, sich an ihn erinnern, lächeln, anhalten, warten, was kommt.
Ein Lkw zwingt sie in die Lücke zurück, Amanda flucht. Sie hört Stimmen auf der Rampe, kann aber nichts sehen. Die Beifahrertür steht eine Ewigkeit offen, der Fahrer redet hinübergebeugt dort hinaus. Dann zieht er endlich die Tür zu. Er startet den Wagen, wendet und verlässt den Platz.
Kein Mensch auf der Rampe.
Amanda wiederholt ihr halbes Ausparkmanöver und wartet, hibbelig, wütend auf sich selbst.
Da! Pravdan. Er kommt heraus und sieht mit einem Blick, dass der Mini jetzt vor seiner Nase steht. Was ihn veranlasst, scheinheilig nach dem Wetter und nach den Wolken zu gucken.
Amanda legt etwas überhastet den Gang ein und würgt beim Anfahren den Motor ab. Das war nicht geplant.
Pravdan springt von der Rampe.
Nicht weggehen ... Sie reißt die Tür auf und streckt den Kopf darüber. „Oh! Hallo! Könnten Sie mir ...Öh ... Pravdan?“
„Hallo ...“ Er kommt näher. Er lächelt nicht. Dafür, dass er sie zum fünften Mal heimlich gesucht und endlich gefunden hat, ist er ätzend cool.
„Probleme?“ Seine Kopfbewegung gilt dem Minicooper.
„Normalerweise nicht“, sagt Amanda und wird wieder feuerrot. „Der ist mir nur irgendwie gerade abgestorben.“ Was kann ich bloß fragen, wenn ich das, was ich wirklich fragen will, nicht herauskriege?
Der Augenblick dehnt sich, die Hitze überflutet ihr Gesicht und breitet sich weiter aus. Alles wie gehabt – total irre.
„Hast du ...“ Pravdan hustet verhalten. „Hast du, ich meine, musst du was anliefern?“
„Hier nicht. In der Nachbarschaft. Ist schon erledigt ...“ Ist mein Brief angekommen? Je länger sie wartet, desto schwerer wird es, die Frage zu stellen.
Die Entscheidung wird ihr für den Moment abgenommen, ein Wagen biegt in den Hof.
„Geh nicht weg!“, sagt Amanda und springt ins Auto. Der Motor heult auf wie bei einer Anfängerin. Sie startet vorwärts, erschrickt darüber, würgt den Wagen wieder ab, lässt ihn erneut an und setzt ihn endlich rückwärts in die Parklücke. Gott, was ist mit mir los?
Der Mensch im anderen Auto fuchtelt verärgert, er wollte genau hier einparken. Pravdan ruft ihm etwas zu und zeigt mit ausholendem Arm über die Firma hinweg, woraus Amanda schließt, dass es hinter dem Gebäudekomplex einen weiteren Parkplatz gibt.
Sie steigt, als der andere weg ist, mit komisch weichen Knien aus und überspielt ihr nervöses Einparken mit einer Kopfbewegung zum Wagen hin. „Ich glaube, mein Eisvogel sollte in die Werkstatt ...“ Dann sieht sie Pravdan direkt an. „Meinst du, ich könnte mir kurz dein Handy ausleihen? Mein Akku hat schlapp gemacht.“
Er nimmt bereitwillig sein Handy vom Gürtel.
Es hat seine Körperwärme gespeichert und Amandas Hand zittert, als sie ihre eigene Nummer eintippt und anwählt.
Im Display erscheint ein Wort.
AMANDA.
Ehe das Handy reagieren kann, das in ihrem Auto liegt, bricht sie die Verbindung ab. „Öh, verwählt ...“ Sie schließt schwindlig vor Glück und Triumph die Augen. Und seufzt: „Ich komm jetzt nicht auf die Nummer meiner Autowerkstatt ... Ist egal.“ Ich hab’s gewusst, ich hab’s doch gewusst ... „Danke ... Pravdan.“ Sie lächelt und gibt ihm sein Handy zurück. „Ja, also, ich muss dann mal los ...“
„Bravo, ich heiße eigentlich Bravo, schon seit der Grundschule ...“
„Bravo? Ist ja cool! Oder gibt’s hier eine nette Kneipe, wo man was essen kann?“
„Ja! Ich zeig sie dir. – Moment.“ Er schaut auf seine Uhr. „Ach ...“
„Wie lange musst du noch?“, fragt Amanda.
„Eine Stunde, leider. Bisschen lang, oder?“
„Nö. Ich muss sowieso noch was erledigen. Ich bin dann nachher zurück und parke da draußen.“ Sie zeigt zur Seitenstraße.
Bravo nickt mit der knappsten Andeutung eines Lächelns. Als sie in den Wagen steigt, kommt Bewegung in ihn. Er setzt in einer Flanke zur Rampe hinauf und taucht in die Gummilappen ein.
Amanda legt die Hände aufs Steuer und tut erst mal nichts. Sie lässt den Wagen nicht an und legt keinen Gang ein. Sitzt einfach nur still da und streicht sanft mit den Daumen übers Lenkrad.
Wir haben ein Date.
In einer Stunde.
Ich hab’s geschafft, wir haben ein DATE!!
3
DIE BLACKBOX
1:58 Uhr. Der General Manager erstarrt –
Stimmen!
Er kehrt der Leiche hastig den Rücken und geht zum Türausschnitt. Dort lauscht er angespannt. Und macht sich bereit, den Zugang zu blockieren, falls jemand kommt.
Die letzten Gäste, die nun wahrscheinlich zu Bett gehen, brauchen eigentlich die Treppe nicht, die zum geschlossenen Restaurant und zum Aufenthaltsbereich über der Eingangshalle führt. Sie durchqueren zu seiner Erleichterung auch tatsächlich unter ausklingendem Reden die Halle und gehen zu den Aufzügen im Erdgeschoss. Von dort kommen noch ein paar leise Lacher. Dann Gesprächsfetzen, etwas lauter, aber nur, um gleich ganz zu verstummen: von den Aufzügen geschluckt.
Der General Manager atmet die angestaute Luft aus. Er tritt auf den Treppenabsatz hinaus und wirft einen Blick über die Brüstung. Die Halle ist leer. Stirnrunzelnd nimmt er wahr, dass der Nachtportier den Kopf auf den Armen liegen hat. Drüben räumt der Kellner unter leisem Klirren die Gläser vom Tisch, seine Dienstzeit endet immer mit dem Weggehen des letzten Gastes.
Der General Manager schließt für einen Moment die Augen. Wenn er nun einfach in seine Suite ginge oder nach Hause fahren würde, um dort zu schlafen, wäre dann der Spuk vielleicht am nächsten Morgen vorüber? Würde sich die Sache von selbst erledigen? Würde die Leiche wundersam verschwinden?
Gibt es überhaupt eine Leiche?
Der General Manager geht auf Zehenspitzen in die blaue Bar zurück. Das Arrangement ist unverändert, seine kleine Hoffnung war vergebens.
Und zu Häupten der Leiche steht auf einem Sessel eine schwarz glänzende Box.
Die Kneipe ist die falsche Wahl: mindestens drei Leute, die gleich „Bravo! Bravoface!“ rufen. Amanda weicht zur Eingangstür zurück, bevor man sie noch gesehen hat, und schüttelt verneinend den Kopf.
„Wollte nur fragen: morgen Darts?“, ruft Bravo geistesgegenwärtig nach drinnen und wartet die Antwort kaum ab. „Muss noch wo hin. Also, bis dann!“ Er dreht sich um. „Ich weiß ein Chinarestaurant ...“
„Ja, gut!“, sagt Amanda. Beim Chinesen wollen sich hoffentlich nicht auch gleich fünf Typen zu ihnen an den Tisch setzen. „Ich fahre hinter dir her.“
Bravo kennt das Restaurant, weil gegenüber ein smartes Bankgebäude mit einer aufwändigen Außenanlage ist. Es gibt da ein paar geniale Treppen mit Betonmäuerchen, eine Rampe mit Schutzgeländer – für Rollstuhlfahrer, die hier so selten sind wie Skater –, einen leicht abfallenden Fußweg und dann noch eine Tiefgarageneinfahrt mit einer kurzen Schranke am unteren Ende, die vielleicht ein Auto aufhalten kann. Kein Ersatz für einen Skatepark, aber besser als nichts. Und besser als die Halfpipe auf dem Schulgelände, wo dauernd Kinder sind.
Bravo erwähnt, dass er abends manchmal hier ist, mit seinem Brett. Er zeigt durch die große Scheibe, vor der Amanda sitzt, hinüber zur Bank.
Er hat einen trockenen Mund – sie ist so verflucht schön und selbstsicher und auch verdammt fremd, obwohl er die letzten Tage nichts anderes getan hat als an sie zu denken, ihre Nummer zu wählen und den Satz zu proben: Ich hab deinen Brief gekriegt.
Sie kann das nicht ernst gemeint haben, hat er sich eingeredet, es war ein Witz, ein leeres Kuvert, eine Verarsche, hat er gedacht, und vielleicht hätte sie nur gekichert, Ach so, das. Hör mal, im Moment ist es schlecht bei mir ...
„Mit deinem Brett?“ Amanda schaut sofort über die Schulter zur Bank.
Bravo nützt die Gelegenheit, um einmal tief durchzuatmen.
Sie hat sich auch gleich zu Anfang kurz umgedreht und dem Gips-Buddha im Schaufenster ihre Jacke übergehängt. Dann hat sie sich plötzlich noch weiter über den Stuhl gebeugt und den schwarzen Sockel begutachtet, auf dem der Buddha thront.
„Wow! Elegant!“, hat sie gesagt, ohne näher zu erklären, was sie damit meinte.
Und jetzt will sie, dass Bravo sein Brett aus dem Kofferraum holt.
„Es liegt doch drin, oder?“ Ihr winziges fragendes Stirnrunzeln. Und dazu das Lächeln.
„Na ja, klar liegt es drin“, sagt Bravo. Sie ist das Schönste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe ...
„Fährst du einmal für mich?“, sagt Amanda. „Nur einmal? Wir haben noch kein Essen bestellt ...“
Er versteht nicht. „Du meinst, jetzt? Jetzt sofort?“
„Ja, eigentlich schon!“ Sie strahlt, als hätte er das Brett bereits unter den Füßen.
Bravo steht auf.
„Du machst es wirklich?“, ruft sie.
Er nickt und dreht sich auch schon um. Die Serviererin weicht ihm aus und stellt dann die Getränke auf den Tisch. Bravo verlässt das Restaurant. Hinter der großen Scheibe sieht er Amanda ihr Glas heben, mit zwei Händen wie einen Pokal. Sie prostet ihm zu. Dann nippt sie am Wasser, als wäre es Sekt, und schaut ihn dabei durch die Scheibe an.
Amanda im Restaurant und hinter seinem Wagen der metallicblaue Minicooper, den er einen Abend lang umsonst gesucht hat – ein Traum, der sich materialisierte.
Bravo schüttelt den Kopf und grinst für einen Sekundenbruchteil übers ganze Gesicht. Ein Sekundenbruchteil ist das Äußerste. Ein Tick länger und er wäre nicht mehr er selbst. So kennt er sich. Auch wenn sie ihn dafür Bravoface nennen. Er nimmt schwungvoll sein Skateboard aus dem Kofferraum und zickzackt unter Protestgehupe zur anderen Straßenseite hinüber. Im Kopf spult er die vergangene Stunde ab: seine Flucht unter einem Vorwand aus der Firma, die Nachhausefahrt und wie er hinaufrannte, im Bad einen Haufen Klamotten mit dem Fuß an die Wand stieß, sich sein Zeug herunterriss und es zur Schmutzwäsche schmiss, wie er rasch duschte, sich frisch anzog und zehn Minuten später schon wieder im Wagen saß – und viel zu früh am Treffpunkt ankam. Was aber gut war, denn Amanda traf gleich nach ihm ein, und so konnten sie sich ungesehen aus dem Staub machen.
Dann ist jede Erinnerung weg, Bravo fühlt das Brett unter seinen Füßen, er hat die passenden Turnschuhe an, er trägt nur solche, das Brett ist ein Teil von ihm, nicht festgewachsen zum Glück, sondern frei beweglich, und er kann mit ihm machen, was er will und was das Gelände erlaubt.
Dieses Gelände hier erlaubt eine Menge, außerdem ist der Aprilabend ungewohnt hell, Frühling liegt seit Tagen in der Luft, die Winterpause ist vorbei, und Bravo konzentriert sich auf das, was er kann, und vergisst für eine Weile fast, für wen er es tut.
Dann schießt er mitten im Manöver einen Blick hinüber.
Das Schaufenster, hinter dem sonst immer irgendwelche Leute beim Essen sitzen, die ihm völlig egal sind, ist leer.
Amanda ist weg.
Bravo stoppt das Brett hart.
Er beugt sich vor – er würde sich über die Straße beugen, wenn das ginge – und sucht durch das Fenster das Restaurant ab.
Ein paar Leute sind drin, Amanda ist nicht dabei.
Der Minicooper!
Sein Blick fährt dorthin.
Der Mini steht unverändert in der Parkbucht.
Unter den Fußgängern auf dem Gehsteig ist Amanda aber auch nicht.
Bravo setzt zum Hinüberfahren an, als er ein leises Lachen hinter sich hört. Erleichterung streicht seinen Rücken hinab. Er dreht sich um.
Und richtig: Amanda steht im Eingang der Bank und erstickt ihr Lachen mit der Hand. Sie verlässt die Nische und kommt auf ihn zu.
Bravo schafft es, cool zu bleiben. Er kickt das Brett, wirbelt es herum und schiebt es sich unter den Arm.
„Bist du gut!“ Aus ihren Augen flammt helle Bewunderung. „Ich kann so etwas überhaupt nicht, ich kann ein bisschen inlineskaten ... Wie viele Meisterschaften hast du schon gewonnen? Nimmst du mich mal mit?“
Bravo sieht ihr hingerissen auf den Mund und spürt dann plötzlich, dass sie ihm das Brett wegnimmt. Sie stellt es ab und legt ihre Umhängetasche darauf.
Danach nimmt sie seine Hände.
Einmal, als er klein war, hat er ein Fahrrad gekriegt; vorher musste er die Augen schließen und durfte sich nicht rühren. So ungefähr ist es.
Amanda macht jetzt aber nichts mehr, sie ist plötzlich wie ein Rennwagen, dem der Sprit ausgegangen ist. Sie schaut hinunter, sagt keinen Ton und hält einfach nur seine Hände fest. Dazu schüttelt sie den Kopf, als würde sie ungeheuer staunen.
Ihr Staunen kommt ihm vor wie sein eigenes Staunen. Ihr Kopfschütteln sieht aus wie sein Kopfschütteln. Es sieht nicht nach Du-bist-der-Falsche aus oder nach Ich-bin-mir-überhaupt-nicht-sicher. Es sieht aus wie Mann, wow!
Es ist ... so schön.
Bravo sieht ihren Scheitel. Ihr Haar fällt nach vorn. Es ist dunkelbraunes, glänzendes Haar mit einem aufregenden Rotschimmer. Dazu spürt er ihre warmen Finger und das alles ist beinahe zu viel für einen allein. Zu viel an Gefühl. Fast zum Erschrecken viel. Aber er wehrt sich nicht mehr dagegen. Wenn er jetzt die Hände frei hätte – nicht, dass er sich das wünscht, aber wenn er sie frei hätte –,
dann würde er
Amandas Gesicht anheben.
Er würde ihr das Haar
nach hinten streichen.
In Zeitlupe.
Unendlich, unendlich langsam.
Unendlich, unendlich zärtlich.
Das würde er tun wollen.
Eine solche Zärtlichkeit hat er bisher nur ein Mal gespürt: für das Kätzchen, das er im Lager entdeckte und gemeinsam mit Franzi hochpäppelte.
Mein Kätzchen, mein Kätzchen, denkt er und erschrickt. Weil das doch nicht geht. Weil Amanda nicht sein Kätzchen ist. Weil er gar nicht weiß, wie er seine Zärtlichkeit zeigen soll. Oder zeigen darf.
Bravo bewegt die Hände, um wenigstens auch einmal zuzugreifen, doch Amanda hält ihn fest.
„Amanda ...“ Er probiert ihren Namen. „Amanda?“ Das geht auf einmal. Davor hat er sie noch nie beim Namen genannt. Aber sein Flüstern kommt ihm schrecklich unbeholfen vor.
Sie sieht auf und findet ohne Umwege seine Augen, die vorsichtig gewartet haben. Ihr Blick, dieser Blick, haut Bravo um. Er saugt ihn ein, er trinkt ihn, und weiter hat jetzt nichts mehr Platz in ihm. So könnte es sein, wenn man vor Liebe zu atmen vergisst und dann stirbt, bevor man es merkt ... Gleich werden wir uns küssen ... Wenn ich da noch lebe ...
„Hör auf, die Luft anzuhalten“, flüstert Amanda, „du machst mir Angst!“ Sie packt ihn an den Schultern und schüttelt ihn, beide Daumen in seinem Halsgrübchen.
Bravo fällt mit dem Gesicht in ihr Haar und atmet, atmet, atmet. Ihm ist jetzt so schwindlig, dass er die Arme um ihren Rücken schlingen und sich an ihr festhalten muss. Schwindlig von ihrem Duft, schwindlig von der Leichtigkeit des Glücks.
Erst als er sie küsst, kommt die Erdenschwere zurück. Sein Blut pocht, die Augen sind zu, die Zärtlichkeit ist für den Moment verflogen, er spürt Amandas Mund, Amandas Körper, Amandas Gewalt – und zu seiner Rettung geben irgendwelche Leute, die auf ihrem Weg zum Chinesen die Straße überqueren wollen, fiese Kommentare ab.
„Kranke Typen, Loser“, sagt Amanda atemlos.
Sie laufen zum Bankeingang. Dort drückt Bravo seine Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes auf die Glaswand und hält Amanda nur mit den Lippen fest. Die Zärtlichkeit kommt zurückgeflutet. Er küsst ihre Augenlider, ihre Nasenflügel, ihre Oberlippe, ihre Unterlippe, den einen Mundwinkel und dann den anderen und umrahmt ihr Gesicht mit einer dichten Reihe von winzig kleinen Küssen. Er haucht seinen Atem auf die glatte, zarte Haut ihrer Schläfen. Er küsst ihre Wangen, ihr Kinn, die Stirn und die Augenbrauen und sucht unter ihrem Haar nach dem Ohr.
Und will, dass Amanda stillhält.
Nicht dass du denkst, ich hätte so was schon jemals gemacht, nee, Fehlanzeige! Es bist du, du, du! Es ist dein wunder-wunderbares Gesicht.
„Dein Gesicht ist wie ... ein Skatepark“, nuschelt er, halb besinnungslos vor Glück.
„Was? Wie ein Skatepark?“, kichert sie. „Jetzt kitzelt es ...“
Sie stemmt die Arme gegen ihn und schiebt ihn von sich. Dann drückt sie ihn unerwartet heftig an die Glaswand, legt die Hände auf seine Hüften und wühlt sich mit Nase und Zähnen unter sein T-Shirt.
Bravo schließt die Augen und stöhnt.
Sie sucht mit den Lippen nach seinen Brustwarzen.
Aber das Shirt ist zu eng.
„Ich will keinen Reis und keine Nudeln, ich will dich mit Haut und Haaren, deinen Geruch und deinen Geschmack, dein Fleisch ...“, murmelt sie halb erstickt und beult mit ihrem Kopf sein Hemd aus. „Ich will jetzt überhaupt nicht mehr essen gehen ...“
„Ich auch nicht ...“
„Fahren wir zu dir?“ Sie taucht zerzaust hervor, Fieber im Gesicht.
„Zu mir?“ Glück und Schreck, alles auf einen Schlag. Himmel, meine Wohnung ist ein Stall ...
„Zu mir sind’s fünfzig Kilometer“, erklärt sie.
„Nein, natürlich zu mir“, sagt Bravo. Ich mach kein Licht an, es ist noch hell genug ...
Amanda entdeckt ihre Umhängetasche auf dem Skateboard. „Guck, meine Tasche hat dein Brett bewacht!“ Sie kichert hysterisch und sagt fünf Sekunden später: „Meine Jacke ist noch bei Buddha!“ Sie zieht an Bravos Hand.
„Was?“
„Bezahlen müssen wir auch.“
Beim Überqueren der Straße wühlt sie in ihrer Tasche und pult an einer Rolle Traubenzucker herum. „Willst du auch?“, fragt sie kauend.
Der Traubenzucker verschwindet, kaum dass Bravo abgelehnt hat.
Ihr Tisch ist besetzt, ihre vollen Gläser wurden abgeräumt, Amandas Jacke hängt jetzt hinter der Tür an der Garderobe.
Die Serviererin unterdrückt routiniert ihre Missbilligung und sieht sie fragend an, zuerst Amanda, dann Bravo.
„Bezahlst du?“, sagt Amanda. „Ich hab was liegen lassen.“
Sie wirft sich die Jacke über die Schulter und geht zu ihrem Platz.
„Sorry“, sagt sie zu dem Mann, der jetzt dort sitzt, und beugt sich ins Fenster. Der Buddha ist ein Leichtgewicht. Sie stellt ihn neben seinen Sockel und nimmt die schwarz lackierte Box mit. Unter einem Arm hat sie die Box, über der Schulter die Jacke, im anderen Arm ihre Umhängetasche.
Die Serviererin bedankt sich mit einem Lächeln bei Bravo.
Er folgt Amanda zur Tür hinaus.
Draußen will er den Arm um sie legen.
„Was hast du da?“
„Zeig ich dir später“, sagt Amanda. Später ist viel, viel später, später ist nicht vor morgen ...
Erst einmal fährt sie hinter ihm her. Sie kommen in einen Vorort, und Bravo blinkt rechts, bremst ab und parkt dann vor einem nichtssagenden zweistöckigen Haus. Die Eingangstür ist ums Haus im Hof. Bravo schließt sie leise auf. Er lässt Amanda eintreten und schiebt die Tür ins Schloss.
„Es ist oben“, sagt er.
Ihre Schritte schaben auf den Marmorstufen.
Amanda nimmt Bravos Zögern und Stochern beim Aufschließen der Wohnungstür wahr.
„Ist wer drin?“, fragt sie beunruhigt.
„Das nicht ...“
„Was dann?“
„Da drin sieht’s ... hm, hm ... scheiße aus.“
„Lass mal mich.“ Amanda entwindet ihm den Schlüssel, sperrt auf und drückt auf den Lichtschalter.
Ein Müllsack. Eine Getränkekiste. Leere Kartons ineinander. Darauf Zeitungen und zerknüllte Bäckertüten. Eine Standleiter, die als Garderobe dient. Darunter verstreut diverse Turnschuhe: Das ist der Flur.
Fünf Türen, zwei davon sind geschlossen. Amanda geht durch die offene Küchentür und legt ihre Umhängetasche und die schwarze Box auf einen Stuhl. Das letzte Tageslicht mischt sich mit Kunstlicht: Auf dem Hof gegenüber sind Scheinwerfer angegangen. Die Küche ist primitiv und riecht nach verstopftem Abfluss.
Das lassen wir einfach hinter uns ...
Bravo steht noch im Flur. Er hat die Hand über den Augen.
Amanda besichtigt ihn und kichert amüsiert.
„Messie“, sagt sie. Dann versucht sie sich an zwei weiteren Türen.
Die Wohnzimmertür wird von einem Kabelknäuel am Boden gebremst. Die Badezimmertür drückt weich gegen einen Haufen Klamotten.
„Aha, aha.“
Sie respektiert die beiden geschlossenen Türen.
„Du kannst wieder schauen, es ist alles vorüber, ich bin nicht gestorben“, sagt sie und zieht ihm die Hand von den Augen.
Einen Wimpernschlag später, beim Blick in sein todernstes Gesicht, auf seinen Mund, seine schön geschwungenen Lippen, vergeht ihr Lachen, rasendes Herzklopfen setzt ein und sie schlingt die Arme um ihn und vergräbt das Gesicht an seinem Hals.
„Ich lass die Augen zu“, flüstert sie. „Bring mich irgendwohin, wo ich dich nur noch fühlen kann. Ich will gar nichts mehr sehen, nur fühlen ... Dich fühlen ...“
„Ich hab ja gar kein Bett ...“
„Schläfst du im Stehen?“
„Auf einer Matratze.“
„Bring mich da hin.“
Die Küche und das Wohnzimmer sind auch nachts nie wirklich dunkel. Zwei starke Scheinwerfer leuchten den Hof der Baufirma gegenüber aus und Bravo betrachtet Amanda im Schlaf. Jetzt ist es die pure Zärtlichkeit.
Wie bist du nur zu mir gekommen ...
Sein Arm unter ihrer Schulter ist gefühllos, und Dinge drücken sich in sein Fleisch, sein Autoschlüssel vielleicht oder ein Schuh oder das Handy; es könnte möglicherweise auch der Rasierer sein. Denn als Amanda nachts einmal im Bad war, hat sie Arme voller Zeugs mitgebracht und über der Matratze fallen lassen: seine Hosen, ein altes Handtuch, seine Turnschuhe, ein Stück Seife, eine alte Decke, seine Jacke und noch eine weitere Jacke, die schmutzigen Klamotten der letzten Woche, um nur ein paar Sachen zu nennen. Sie hatte alles zusammengerafft, ohne extra Licht zu machen.
„Ich will in deinem Geruch baden“, hat sie gesagt, „und ich will, dass du mich mittendrin liebst!“
Dann haben sie sich in dem Zeug gewälzt.
Sie unten.
Er unten.
Sie oben.
Er oben.
Er und Amanda und der ganze Krempel gehören ab jetzt zusammen.
Vorsichtig zieht er seinen leblosen Arm heraus, die Zahnbürste auch, die ihm dabei in die Finger gerät, er erträgt das einsetzende Kribbeln und nimmt das Wunder, das neben ihm schläft, in den anderen Arm.
Als Bravo aufwacht, sitzt Amanda am Couchtisch, nackt, und besieht sich aufmerksam die vierunddreißig Zähnchen, die, umgeben von einem Wall aus Unaufgeräumtem, ihren Namen verkünden und sicher die einzigen Gegenstände in der Wohnung sind, die glänzen.
Mit einem Wischer seines Arms hätte er den Beweis beseitigen können, wenn er nachts daran gedacht hätte, den Beweis dafür, dass er sich wie ein Erstverliebter von zwölf Jahren benommen hat.
„Öh ...“ Er hüstelt.
Amanda wirft ihm einen schrägen Blick zu und fällt dann längelang auf die Couch. Sie steckt das Gesicht ins Polster.
„Machst du mir eine Kette daraus?“, verlangt sie mit erstickter Stimme.
Er denkt nach. „Geht eine Säge auch?“
„Geht auch. Wenn ich sie um den Hals tragen kann.“
„Da ist aber Kobalt dran.“
„Ja, und?“
„Du kriegst davon Nickelallergie.“
„Ja, und.“ Sie gleitet von der Couch und kriecht zu ihm. Wirft ein Seifenstück und einen Turnschuh von der Matratze, kniet sich über ihn und beklopft seine Schultern mit ihren Fäusten. „Du! Du darfst niemals eine andere lieben, hörst du? Nie, niemals! Und nie einen anderen Namen auf deinen Tisch schreiben!“
„Schlag mich nicht tot, Amanda ...“
„Schwöre!“
„Ich will keine andere auf meinen Tisch schreiben“, schwört Bravo.