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Das Wolkenzimmer
Fritz Bauer Institut an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. Der Schauplatz in Irma Krauß’ Jugendroman Das Wolkenzimmer ist ein mittelalterlicher Turm in einer nicht benannten süddeutschen Kleinstadt. Auf diesen Turm flüchtet sich Veronika, gerade durch das Abitur gefallen und eine schwere Beziehungskrise durchlaufend. Aber der alte Türmer hat einen Blick für potentielle Selbstmordkandidaten – er erlaubt Veronika, für einige Tage auf dem Turm zu bleiben, um innerlich wieder zur Ruhe zu kommen. Veronikas Geschichte wird unterbrochen von den Bruchstücken einer anderen Geschichte, der Geschichte eines kleinen Jungen aus einer anderen Zeit. Auch er flüchtet in den Turm, auch er überlebt dank der Hilfe eines alten Türmers, aber bei diesem Kind handelt es sich um einen jüdischen Jungen, dessen Eltern bereits von den Nationalsozialisten ermordet wurden und der in letzter Minute der Deportation entkommen konnte. So wie Veronika durch den Türmer Schritt für Schritt wieder in ihr Leben zurückfindet, so richtet sich auch Jascha mithilfe des Türmers im Gebälk des Turmes ein, immer darauf bedacht, keinerlei Spuren zu hinterlassen. Trotz der vordergründigen Parallelität beider Geschichten lässt der Roman keinen Zweifel daran, dass es sich dennoch um zwei ganz unterschiedliche Schicksale handelt: Veronika hat eine Sinnkrise zu überwinden, für Jascha ist es ein tagtäglicher Kampf auf Leben und Tod – und das auf Jahre, in denen er oft tagelang keinen Menschen sieht, mit niemandem sprechen kann. Am Ende kann Veronika den Turm verlassen und ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Auch Jascha erlebt den Tag der Befreiung durch die amerikanischen Truppen, doch für ihn gestaltet sich dieser Tag als ein zutiefst ambivalentes Erlebnis – muss er doch erfahren, dass sein Beschützer, der Türmer, bei einem Angriff ums Leben gekommen und sein Bruder, der als amerikanischer Soldat zurückgekehrt ist, bereits bei der Landung in der Normandie gefallen ist. Zum Schluss des Romans werden die Schicksale der beiden Protagonisten wieder zusammengeführt: Der Türmer macht Veronika ein Geschenk, das untrennbar mit seiner eigenen Vergangenheit verbunden ist, denn sie wird in Zukunft die Trägerin seiner Erinnerungen sein. Selten sind die Themenbereiche jüdische Kindheit während der NS-Zeit, die daraus resultierenden Versehrtheiten sowie die Erinnerung an die Ereignisse des Holocaust auf so überzeugende Weise verbunden worden wie in diesem Roman.
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