Liebe
Liebe kennt kein Alter. Ich wusste es nicht, nein, bis vor kurzem nicht. In den Augen der Schüler, die mir auf der Straße begegnen, bin ich ein alter Mann und habe mit Liebe nichts mehr zu schaffen. Als ich selbst ein Schüler war, taxierte ich meine Zeitgenossen auch. Wenn sie graue Haare hatten, fielen sie durch. Das Recht der Jugend, zu irren. Man lernt erst an den eigenen Jahren.
Ich bin Geologe. Mein erwachsenes Leben zerfällt in zwei Hälften: in Suche und Angekommensein. Ich arbeitete in verschiedenen Forschungsteams und war zwanzig Jahre nur auf Reisen; kehrte ich für kurze Zeit nach Deutschland zurück, so wohnte ich bei meiner Mutter. Mein Beruf bedeutete mir alles – bis mir, als ich dreißig war, die Liebe begegnete. Vielmehr, sie brach über mich herein, sie überwältigte mich, sie war eine Kraft, der ich nichts entgegenzusetzen hatte. Sie kam in Gestalt von Anna.
Anna war die Frau unseres neuen Expeditionsleiters. Dieser Mann, Paul Meißner, hielt Distanz zu uns jüngeren Teammitgliedern. Wir wussten von ihm nur, dass er verheiratet war und zwei kleine Kinder hatte und viel Geld ausgab, um alle paar Wochen nach Hause zu fliegen. Nach seiner Rückkehr ließ er sich von uns über den Fortgang der Arbeit unterrichten. Kein Wort von daheim.
So überraschte es, als er mich eines Tages beauftragte, den Jeep zu nehmen und seine Frau von dem kleinen Wüstenflugplatz abzuholen, auf dem sie landen würde. Es war eine Fahrt von mehreren Stunden. Als ich ankam, hieß es, der Flieger hätte einen halben Tag Verspätung. Paul Meißner ließ mir per Funk mitteilen, dass ich seiner Frau ein Quartier beschaffen und erst am nächsten Morgen zurückfahren solle.
Die Frau, Anna, entsprach so gar nicht dem Bild, das ich mir gemacht hatte; sie war ein wenig scheu, nahm dabei aber das für sie völlig Neue mit einer Intensität auf, die mir zeigte, wie blind ich selbst herumlief. Sie fragte, sie lauschte; sie erzählte von der Reise und ein wenig auch von den Kindern, die sie zum ersten Mal allein gelassen habe. Sie wollte alles von unserer Arbeit wissen, ihr Mann gebe ja so gut wie keine Auskunft, lachte sie. Sie saß mir den ganzen Abend an einem Restauranttisch gegenüber, wir redeten, wir lachten leise, ich sah nur ihr Gesicht und ihre Hände und nicht ein Mal die Uhr. Bis der Ober flüsterte, das Lokal würde nun schließen. Ich starrte ihn an. Dann kam ich zu mir und stand auf.
Als ich Anna zu ihrem Zimmer gebracht hatte, holte ich mir eine Decke und ging zum Jeep. Ich fuhr ein Stück in die Wüste hinaus; das, was in mir entstanden war und wuchs, brauchte Raum. Ich saß bis zum Morgen da, den Himmel über mir, und konnte mir nicht vorstellen überhaupt noch einmal zu schlafen.
Während der Fahrt zum Camp redeten wir wenig. Bei mir war es die Angst, ich könnte den Satz aussprechen, der meinen Kopf besetzte: Der Kontinent ist unendlich, lass uns weiterfahren, lass uns weiterfahren ...
Dann waren wir am Camp. Anna sah mich an. Sie hatte ein verlorenes Lächeln in den Mundwinkeln, sie streifte mit den Fingerspitzen leicht und wie erschrocken über meine Hand, sie atmete zitternd ein und aus. Danach wandte sie sich um und nahm ihre Tasche.
Mich durchfuhren heiße und kalte Schrecken: Ich hatte in ihren Augen gelesen, dass sie – weitergefahren wäre.
Unsere Liebe wuchs in dem Maß, wie sie heimlich bleiben musste. Das Leben im Camp brachte es mit sich, dass wir uns häufig sahen, doch niemals allein. Wir konnten Alltagsgespräche führen und verstohlene Blicke tauschen, Blicke voller Frage, Antwort, Verlangen und Verzweiflung. In den Nächten lag ich wach; ich hörte, was sie und ihr Mann taten, ich hörte es jede Nacht. Ich hasste Anna, doch am Morgen liebte ich sie noch mehr.
Paul Meißner brachte seine Frau selbst zum Flugplatz. Er war umgänglicher, als er zurückkehrte. Ich aber fiel nun in einen tiefen Erschöpfungsschlaf, jeden Abend. Ich redete kaum und lachte nicht mehr. Meine Trauer war bodenlos.
Bis ein Brief von ihr kam. Er war geschickt getarnt. Als ich begriff, sprang mir das Herz schier zum Hals heraus. Es war ein vorsichtiger kleiner Brief, der eine Deckadresse enthielt und die angstvolle Bitte, ich möchte ihn doch sofort verbrennen. Ich schrieb zurück. Wir alle schrieben Briefe – es war die VorHandyZeit – an Mütter, Schwestern und Freundinnen, die von unserem Abenteurerleben hören wollten. Nur Paul Meißner schrieb nie.
Anna und ich wurden von Brief zu Brief kühner, wir lernten uns kennen, wir lebten unsere Fernliebe, die voller Glut und Sehnsucht war. Ihr Mann flog heim, Höllentage für mich, doch danach kündigte er an, sie käme wieder zu Besuch. Ich wusste es bereits und bastelte an Strategien. Doch als ich Anna dann abholen durfte, konstruierte ich keine Fliegerverspätung und keine Reifenpanne; wir begnügten uns damit, eine zeitlose Stunde unter dem Himmel zu stehen, die Arme umeinander geschlungen. Es war, aus der Distanz der Jahre betrachtet, die vollkommenste Stunde meines Lebens.
Unsere Gelegenheit kam beim nächsten Mal. Paul Meißner musste zu einer rasch anberaumten Konferenz in die Hauptstadt und Annas Rückflug war erst einen Tag später. Den Abend verbrachten wir mit den anderen, heiter, ausgelassen, mit plötzlicher Atemnot, sooft wir uns ansahen. Beim Morgengrauen fuhren wir los; wir hatten drei Stunden Reserve und eine Wolldecke im Jeep. Das Wissen um die drei Stunden hatte den Abend so groß gemacht, doch kaum angefangen, zerrannen sie uns zwischen den Fingern. Wir waren so unbeholfen, wir glaubten uns gut und lange zu kennen, nun holte uns die Wirklichkeit ein, wir waren zwei Fremde, doch die Enttäuschung darüber schüttelten wir von uns, nicht anders als den Sand aus der Decke.
Als sich der Flieger in die Luft hob, riss er mir die Haut vom Körper. Anna empfand etwas Ähnliches, sie schrieb, sie wäre in Wirklichkeit bei mir geblieben, eine leere Hülle sei nach Hause geflogen, schlimm nur für die Kinder.
Mehrere Jahre gingen wir durch die Süße und den Schrecken unserer heimlichen Liebe. Wir hatten dabei nur fünfmal Gelegenheit miteinander zu schlafen. Beim fünften Mal schwor Anna, sie würde Paul die Wahrheit sagen und ihn um die Scheidung bitten. Sie klang fest, war aber weiß bis in die Lippen. Danach hörte ich nichts mehr von ihr. Als ich ans Telefon gerufen wurde, war es Paul. Ich solle sofort meine Sachen packen und nie wieder seinen Weg kreuzen noch jemals Kontakt zu seiner Frau aufnehmen, er würde mich erschießen und sie auch, und er meine, was er sage.
Nach der ersten Betäubung dachte ich ernsthaft daran, mich erschießen zu lassen. Doch Anna hatte zwei Kinder ...
In meiner äußersten Not vertraute ich mich meiner Mutter an. Meine Mutter konnte aber nicht verstehen, dass ich ausgerechnet eine verheiratete Frau haben wollte und verurteilte mich dafür. Ich verließ Deutschland für mehr als zehn Jahre, eine bittere, rastlose Zeit. Dann hatte ich genug vom Wanderleben. Ich war nun fünfundvierzig und wollte endlich wissen, wohin ich gehörte. Ein Bauunternehmer schrieb die passende Stelle aus und ich bewarb mich. Ich machte dann zwanzig Jahre lang geotechnische Untersuchungen für Baugebiete und Bauwerke.
Doch zunächst heiratete ich. In unserem Büro arbeitete eine junge Architektin. Sie verliebte sich wohl hauptsächlich in den Abenteurer und ich mich in ihre Jugend. Es wurde eine gute, solide Ehe. Kinder haben wir nicht bekommen, was ich sehr bedauere, aber meine Frau wollte ihren Beruf nicht vernachlässigen. Heute, mit fünfundfünfzig, fällt ihr die Arbeit schwerer, doch ich entschädige sie, ich plane für sie Überraschungsreisen an Orte, die ich gut kenne. Ich wäre überall auf der Welt zu Hause, erzählt sie den Leuten und sie genießt es, sich mir zu überlassen.
Ich glaube aber, was meine Frau am meisten an mir fasziniert, ist meine Schweigsamkeit, mein Geheimnis, wie sie es nennt, etwas müsse mich in der Vergangenheit zu dem gemacht haben, der ich sei, sie käme schon noch dahinter, sie würde die Leiche unterm Teppich finden, eines Tages. Sie lacht dazu, sie hat ein heiteres, ausgeglichenes Wesen, meine Frau, die ich dafür von Herzen liebe. Wir haben ein schönes Heim und gute Freunde, wir sind glückliche Menschen.
Dennoch war eines Morgens ganz ohne Vorwarnung die alte Deckadresse in meinem Kopf. Ich habe mich gewehrt. Und unterlag dann doch. Ich unternahm die Fahrt, fand das Haus und sah mich Annas Freundin gegenüber. Fünfundreißig Jahre, rief sie und konnte sich nicht beruhigen. Ihr selbst habe die Morddrohung auch gegolten und Annas Familie sei unbekannt verzogen.
Der verkapselte Splitter in meinem Fleisch hatte sich aber bereits seinen Weg gebahnt, er blutete. Es ist erstaunlich einfach, eine Familie aufzuspüren, wenn man es wirklich will. Ich brauchte nicht einmal lange dafür. Dann beurlaubte ich mich von meiner Frau und unternahm eine weitere Fahrt. Das Haus lag in einer Vorstadtsiedlung. Ich beobachtete es vom Wagen aus. Als ich Anna sah, machte mein Herz einen gefährlichen Satz und tat das immer wieder – sooft ich für mein Warten belohnt wurde. Anna und Paul verließen das Haus meistens gemeinsam. Als er einmal allein weggefahren war und sie noch in der Auffahrt stand, stieg ich aus und ging auf sie zu.
Es ist fraglich, ob sie mich sofort erkannte; ich hätte sie vielleicht in anderer Umgebung auch nicht erkannt; doch als wir so voreinander standen und ich kein Wort herausbrachte, ging plötzlich ein Zittern über ihre Züge.
Sie bat mich nicht ins Haus, sie stieg in meinen Wagen. Ich fuhr hinaus, irgendwohin. Als ich den Motor abgestellt hatte, sahen wir uns an. Kein Lächeln kräuselte ihre Lippen. Nach einer Weile schlug sie die Hände vors Gesicht, das gealtert war wie meines und doch ihr Gesicht geblieben war; die fleckigen Hände waren ihre Hände, das Haar, das sie damals schon kurz getragen hatte, war nur weiß geworden. Ich sah sie an. Ich müsse ihr mein ganzes Leben in einer Stunde erzählen, murmelte sie, länger könne sie nicht bleiben, ich dürfe auch nicht anrufen, ihr Mann könne alle Telefonate zurückverfolgen.
Wir blieben trotzdem drei Stunden sitzen, drei Stunden sind unsere Zeit, erinnerten wir uns gegenseitig und die Worte überschlugen sich plötzlich.
Als ich sie zurückbrachte und mein Hals zugeschnürt war, sagte sie, ein Treffen sollte noch möglich sein, sie würde zum Wagen kommen. Ich parkte zwei Tage lang in der Parallelstraße. Anna kam, wir fuhren wieder hinaus. Diesmal setzten wir uns in den Fond und ich zog sie an mich. Wir redeten fast nichts. Dass es unsere letzte Begegnung sein würde, machte uns sprachlos. Wir hielten uns umarmt, als wären damit fünfunddreißig Jahre auszulöschen.
Ich brachte sie zurück, zu ihrem Mann, zu ihren Kindern; Enkel hatte sie auch, wie ich nun wusste. Es riss mich entzwei, als sie sich zum Aussteigen bereit machte. Doch sie blieb noch einen Moment sitzen. Sie schluckte. Dann packte sie meine Hände. Ich muss es dir sagen, stieß sie hervor, ich muss es dir sagen – du hast eine Tochter.
Wir seien glückliche Menschen, behauptete ich. Es scheint aber ein Glück zu geben, das mehr schmerzt als jedes Unglück.