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Mireille krallt sich an mich und wimmert. Bevor ich restlos den Verstand verliere, fällt mir ein, dass Gespenster garantiert nicht anklopfen, sie schweben lautlos herein. Ich mache mich von Mireille frei und rolle geistesgegenwärtig aus dem Bett auf den Boden. "Jaha!", rufe ich dabei.
Die Tür geht auf. Schon an den Beinen erkenne ich, dass dieses Gespenst Frau Heinze heißt. Die Kittelschürze, der Kopf mit der schiefen schwarzen Perücke - na bitte. Ich setze mich auf und grinse.
"Warum liegst du denn am Boden?", knurrt Frau Heinze. "Das ist viel zu kalt. Soll ich denn meine ganzen Zwiebeln für euch verkochen? Und warum schreit die Marie Mantel unter der Decke, geht es ihr schlechter?" Sie stapft zum Bett.
Tatsächlich schreit Mireille ununterbrochen nach mir, als könnte man mit meinem Namen Gespenster vertreiben.
Ich werfe mich zwischen sie und Frau Heinze, ich will ja nicht, dass Mireille den Schock ihres Lebens hat - so ein viel besserer Anblick als ein Gespenst ist Frau Heinze nämlich nicht.
Ich stecke den Kopf unter die Decke. "Mireille", flüstere ich, "hör zu schreien auf, es ist Frau Heinze! Nun komm schon raus, ich hab mit dem Gespenst doch nur Spaß gemacht!" Ich kitzle sie und das tut man normalerweise nicht, wenn die Lage ernst ist.
Mireille taucht prustend und hustend auf. Ihre Haare sind völlig wirr und der Halswickel hängt lose.
"Willst du ersticken?", brummt Frau Heinze. "Jetzt aber, was sind denn das für Sachen, Donnerwetter?"
"Mireille dachte, ein Gespenst kommt", erkläre ich ihr.
"Papperlapapp, Gespenst. So wird man nicht gesund! Man deckt sich ordentlich zu und schwitzt." Frau Heinze stopft Mireille ins Bett zurück und schnappt sich den losen Wickel. Dann befeuchtet sie das innere Tuch neu mit dem noch warmen Sud aus der Kanne und packt es zusammen mit dem äußeren Handtuch um Mireilles Hals, ohne Rücksicht auf ihre Haare zu nehmen.
Mireille hält ergeben still und lässt sich auch noch bis zu den Ohren zudecken. Aber als Frau Heinze das Fenster öffnen will, quiekt sie entsetzt auf.
"Was denn? Willst du keine frische Luft?"
Mireille schüttelt den Kopf, ihre Augen sind groß vor Angst.
"Äh, wir haben gerade erst gelüftet", lüge ich.
"Davon merkt man aber nichts." Frau Heinze rümpft die Nase.
"Äh, über die Tür", beeile ich mich zu erläutern. "Weil es vom Fenster nämlich so kalt kommt!"
Frau Heinze mustert mich von oben bis unten. "Du solltest dich sowieso in eine Decke wickeln", sagt sie ungnädig.
Ich verspreche ihr, dass ich sofort meine Decke von oben holen will. Dann frage ich sie das, was mir auf der Zunge brennt: "Frau Heinze, gibt es im Haus einen verborgenen Raum und eine zugemauerte Tür?" Wenn nämlich jemand das Haus kennt, so ist sie das.
"Was?" Frau Heinze bleibt in der Tür stehen und kratzt sich am Kopf. Die Perücke bewegt sich. "Wo soll das sein?"
"Oben im fünften Stock!"
"Unsinn", knurrt Frau Heinze. "So einen Unsinn hab ich noch nicht gehört. Bist du vielleicht auch schon krank?" Sie streckt die Hand aus, als wollte sie prüfen, ob ich Fieber habe.
Ich weiche ihr aus. "Ich bin ganz gesund und da ist eine Mauer ohne Tür und davor hängt ..."
Frau Heinze seufzt. "Es gibt, weiß Gott, genug Türen im Haus. Dreiunddreißig haben wir kürzlich geölt. Reichen die nicht?"
"Ja, aber ..."
"Zwanzig Jahre laufe ich jetzt hier treppauf, treppab, aber Unsinn will ich mir nicht auch noch anhören. Wenn du krank wirst, sag´s rechtzeitig. Und jetzt sieh zu, dass du in deine Decke kommst. Trinkt den Zwiebelsud aus, hol für dich eine eigene Tasse. Ich koche noch mal eine Kanne voll und gebe sie Frau Treuplitz mit. Ich selber komme heute nicht mehr hoch, mir reicht´s." Damit hinkt Frau Heinze zur Treppe, unsere Tür lässt sie offen.
Als die schwarze Perücke sich um die Biegung nach unten verabschiedet hat, schließe ich lautlos die Tür.
"Antonia", tönt es furchtsam vom Bett her, "wer hat jetzt Recht, du oder sie? Falls sie Recht hat, kannst du dir meinetwegen eine Decke holen. Aber wenn du Recht hast, bleibe ich keine Sekunde allein!"
Ich drehe mich zu Mireille um. "Den geheimen Raum gibt´s", sage ich fest. "Kann ja sein, dass das noch niemand gerafft hat außer mir."
Mireille beißt sich auf die Lippe. "Und der Einbalsamierte?"
Ich lege den Kopf schief. "Hey, ich weiß nicht ..."
"Komm sofort in mein Bett, Antonia, geh bloß nicht weg!", jault sie.
Na ja, das mache ich doch gern. Bin im Moment selbst nicht scharf darauf, allein im Haus herumzugeistern. Ich hüpfe am Fußende in Mireilles Bett und decke mich gut zu.
Mireille atmet erleichtert auf. "Ich hab übrigens eine Überraschung", gibt sie bekannt, nachdem sie mir verboten hat, den verborgenen Raum noch einmal zu erwähnen.
"Welche?"
"Eine gute!"
"Logisch. Nun sag schon!"
"Wollte es eigentlich spannend machen ..."
"Mireille! Was glaubst du, was du gerade tust?"
"Also ..." Sie zeigt langsam auf mich und dann im großen Bogen hinüber zu Jessicas Bett.
Ich starre sie an. "Nicht wirklich, Mireille?"
"Doch. Ich hab Frau Treuplitz gefragt. Und Jessica ist auch einverstanden. Du musst nur dein eigenes Bettzeug von oben mitbringen. Wo ich doch krank bin und nicht zu meinem Vater kann ..." Mireille strahlt übers ganze Gesicht.
Hui, wir dürfen am Samstag zusammenziehen! Jessica fährt nämlich heim wie die meisten anderen auch. Ach, wenn sie sich doch für Eva begeistern könnte und ihren Platz hier für immer räumen würde! Aber leider begeistert sich niemand für Eva.
"Mensch, Mireille!" Ich strample mit den Füßen. "Super!" Dann grinse ich. "Damit machen wir Eva restlos glücklich."
"Wieso Eva?"
"Wieso wohl?"
"Aber sie hat die ganze Nacht keinen zum Rumkommandieren!"
"Auch wieder richtig. O Mann, geht´s mir gut."
Mireille nickt zufrieden. Dann runzelt sie die Stirn. "Aber, Antonia, wenn du auch nur ein einziges Mal das Wort einbalsamiert verwendest ..."
"Dann fliege ich raus, ich weiß. Einbalsamiert, einbalsamiert, einbalsamiert. Und was machst du jetzt?"
Mireille versucht mich mit ihren Füßen aus dem Bett zu vertreiben. Aber außer einem Hustenanfall kriegt sie nichts zu Stande.