2 Rahel
Komm her, kuschel dich wieder an mich und hör mir zu.
Gestern warst du Gareb, der eine Kopfnuss kriegte.
Wer du heute bist? Warte noch einen Augenblick. Lass mich dich anschauen - ja, ich seh es genau, heute bist du Rahel. Du bist ja leider nur ein Mädchen. Entschuldige, dass ich leider sage, aber es ist dein Wort. Du ärgerst dich nämlich, weil du nicht Lesen und Schreiben lernen darfst wie deine Brüder oder dieser Gareb aus der Nachbarschaft, den dein Vater auch unterrichtet. Aber um so besser kannst du zuhören! Du bist Rahel die Lauscherin. Während du mit deiner Mutter und deiner Tante und deiner Kusine die Wolle spinnst oder andere Frauenarbeit tust, sperrst du die Ohren auf. Denn in dem einzigen Raum, den ihr alle teilt, sitzt auch dein Vater an der Töpferscheibe und unterrichtet nebenher einen von den Jungen. Immer nur einen, versteht sich. Einer allein regt ihn schon genug auf. Meistens hat dein Vater gerade die Hände voller Lehm, wenn er eine Kopfnuss geben will. Oder sein Krug wird schief, wenn er ausholt.
"Hagel, Blitz und Donnerwetter!", schreit er dann. "Lehre ich vielleicht einen Ochs die heiligen Schriften?"
Und der jeweilige Ochs duckt sich. Zu Gareb allerdings war dein Vater noch nie so grob. Nur heute hat er ihm eine leichte Kopfnuss verpasst, weil Gareb keine Ruhe gab mit seinem Stern.
Dabei hast du schon bemerkt, dass dein Vater selbst jede Nacht hinausgeht, um den Stern zu beobachten. Denn du bist ihm nachgeschlichen. Im Schleichen bist du genauso gut wie im Lauschen. Du bist Rahel die Schleicherin. Deswegen verschwindest du auch jetzt leise von deiner Schlafmatte und steigst vorsichtig über deine Kusine, deine Tante, deine Mutter und deine Brüder hinweg. Dein Vater ist schon vor einiger Zeit aufgestanden. Wahrscheinlich betrachtet er den Himmel, an dem der Stern jede Nacht näher kommt. Du hast deinen Vater schon öfter murmeln hören: "Wenn das nur etwas Gutes bedeutet ..."
Warum sind die Erwachsenen immer so pessimistisch? Es kann doch nur etwas Gutes bedeuten, denkst du.
Dir fällt bei dem Stern eine Stelle in der Schrift ein, die dein Vater schon lange nicht mehr aufgesagt hat - aus Angst vielleicht, dass er damit völlig daneben liegen könnte?
Die Stelle heißt ungefähr so: Du, Betlehem, bist zwar nur ein Dorf, aber aus dir wird unser aller Retter hervorgehen.
Dein Vater hat das immer mit sehnsüchtiger Stimme vorgelesen, aber seit der Stern näher kommt, traut er sich nicht mehr. Dabei könntet ihr einen Retter wirklich gut gebrauchen, einen Retter von Armut und Dürre, von Krankheit und Tod, von bösen Herrschern und von der drückenden Steuer der Römer.
Draußen ist dein Vater nirgendwo zu sehen. Wo kann er nur mitten in der Nacht stecken? Aber dafür ist der Stern da. Groß und leuchtend steht er über deinem Dorf. Du schaust hinauf und denkst: Wenn der Stern über Betlehem stehen bleibt, geht das Schriftwort in Erfüllung, jawohl. Denn du bist Rahel die Optimistische.
"Rahel, meine Kleine", flüstert plötzlich eine Stimme neben dir. Dein Vater ist aufgetaucht. "Rahel, der Stern - ich glaube, er bleibt stehen! Wenn das nur etwas Gutes bedeutet ..."
Du nimmst seine Hand und sagst: "Aber Vater, sicher bedeutet es etwas Gutes! Denk an das Schriftwort ..." "Schsch!", sagt dein Vater erschrocken.
6 Der Hahn
Na, komm in meinen Arm. Ich weiß, warum du so guckst: Du bist neugierig wie sonst was. Du willst brennend gern und sofort wissen, wer du heute bist. Nachdem du zuerst Gareb warst, dann Rahel, danach der Bär und nach ihm Garebs Mutter und schließlich auch noch der Astrologe Caspar, wirst du dich ein bisschen wundern. Ja, ich trau´s mich fast nicht zu sagen - öm, du bist heute, öm, der Hahn auf der Stange in Rahels Haus ...
Du hast nichts dagegen, ein Hahn zu sein? Gut, das ist gut. Dann sage ich dir auch, dass du der schönste Hahn in ganz Betlehem bist. So bunt schillernde Schwanzfedern wie du hat keiner sonst. Deswegen sind auch immer die Kinder hinter dir her. Sie wollen dir eine Feder ausrupfen. Das kannst du ja überhaupt nicht leiden! Also, Kindern gehst du aus dem Weg. Nicht einmal bei Rahel und ihrer Kusine Atalja bist du deiner Federn sicher. Deshalb machst du zum Schlafen nur noch ein Auge zu.
Aber was heißt schlafen? Schlafen kannst du ja neuerdings sowieso kaum mehr. Nicht nur, dass der komische Stern jede Nacht heller zur Fensterluke hereinscheint, nein, dauernd schleichen sie auch noch hinaus, der Töpfer Natan und seine Tochter Rahel. Du als Hahn kannst mit der Nacht nichts anfangen, sie ist dir zu dunkel. Du findest keine Körner und siehst deine Feinde nicht. Dafür bist du aber beim ersten Morgengrauen munter und weckst mit deinem Schrei das ganze Dorf.
Also, dieser Stern macht dich noch verrückt. Gerade warst du ein bisschen eingedöst. Und jetzt bist du schon wieder hochgeschreckt, weil es einfach unnatürlich hell ist. Die Angst, du hättest den Sonnenaufgang verschlafen, reißt dich von der Stange. Entsetzt flatterst du zum Fenster. Dort sitzt du und guckst dir den Stern an, mal mit dem einen und mal mit dem anderen Auge. Hier ist dein Platz, von dem aus du deinen Weckruf krähst. Du schüttelst ein wenig dein Gefieder, dann reckst du den Hals und öffnest den Schnabel weit. Das machst du jetzt auch, aber nur um zu gähnen, du bist total übermüdet.
In diesem Moment legt sich ein Arm um dich. Jemand drückt dir den Schnabel zu. Du wehrst dich empört, solche Behandlung bist du nicht gewöhnt.
"Pssst", flüstert Natan der Töpfer und hält dich fest, "du kannst doch jetzt nicht krähen! Das Viehzeug ist auch schon durcheinander", sagt er leise zu Rahel. Die beiden müssen draußen neben dem Fenster gestanden haben. Rahel benützt die Gelegenheit, dir eine Feder auszurupfen. Autsch! Das ist vielleicht unangenehm! Wütend willst du nach ihr hacken, aber du kannst ja nicht, der Töpfer hat dich im Griff.
"Wir nehmen den Hahn mit", erklärt er seiner Tochter, "der fängt uns noch mitten in dieser seltsamen Nacht zu krähen an, wenn wir ihn am Fenster sitzen lassen."
Da du die Menschensprache nicht kennst, hast du kein Wort verstanden. Du weißt nicht, wohin sie mit dir gehen. Und so, wie sie herumsuchen, wissen sie es selbst auch nicht. Vor lauter Angst lässt du etwas fallen. Jetzt ist dir ein bisschen leichter.
9 Der Großvater
Das Wunderbare an dieser wunderbaren Zeit ist, dass du dich täglich verwandelst. Ganz ohne Mühe. Du kuschelst dich an mich und schlüpfst einfach in eine neue Person. Vorgestern warst du ein Soldat, gestern die kleine Atalja und heute bist du - na, wer, denkst du?
Ich gebe dir einen Tipp: Alt bist du und auch deine Blase ist nicht mehr die Jüngste, sie zwingt dich jede Nacht mehrmals hinaus. Dein Enkel heißt Gareb ...
Ja, Großvater, alt werden ist nicht so schön. Alt und klapperig und unnütz. Dein ganzes Leben lang hast du auf etwas gehofft, du weißt gar nicht auf was. Gekommen ist es jedenfalls nicht. Einmal warst du stark. Du hast dir vorgenommen, das Schicksal zu bezwingen. Jetzt hat das Schicksal dich bezwungen, du bist am Ende.
Lass dich von mir in den Arm nehmen, ehe du wieder hinaustappst, das vierte Mal in dieser hellen Nacht. Lass dir etwas erzählen.
In Jerusalem lebt ein Mann, der ist noch älter als du. Weißt du, warum er noch lebt? Weil er eine Stimme gehört hat, die ihm sagte: "Simeon, du wirst nicht sterben, ehe du den Retter Israels gesehen hast." Ja, Großvater, diese Prophezeiung hält Simeon am Leben. Und weil ich die späteren Ereignisse kenne, kann ich dir auch verraten, dass es so kommen wird. Sehr bald schon!
Sehr, sehr bald.
Ob es für dich nicht zu spät sein wird, fragst du?
Aber Großvater, noch vor Simeon wirst du den Retter sehen, noch heute Nacht!
Oje, jetzt habe ich mich verplappert. Das wollte ich nicht ... Aber wenn ich dein glückliches Gesicht anschaue, tut es mir gar nicht Leid. Ja, rapple dich auf, nimm den Stock zu Hilfe, lass die anderen schlafen, die sind jünger als du, die haben noch Zeit, auch die Großmutter. Folge deiner Schwiegertochter, die bereits hinter Gareb herläuft. Wenn du dich ein bisschen beeilst, kannst du sie gerade noch verschwinden sehen!