JÖRG
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„Märten!“, ruft Jörg und schaut die Straße auf und ab. Niemand. Keine Antwort von seinem Bruder. Jörg läuft auf den Schulhof zurück und rüttelt an der Eingangstür – schon abgeschlossen. Vielleicht hockt der Scherzkeks hinter dem Gebüsch an der Turnhalle?
„Märten, komm raus, du Doofmann, wir müssen heim!“
Aber Märten ist weder hinter dem Gebüsch noch bei den Mülltonnen, noch hat er sich auf der Kellertreppe versteckt.
Jörg stöhnt. Wenn er den Kleinen mal zwei Minuten lang nicht im Auge behält, ist der auf und davon! Es können natürlich auch zehn Minuten gewesen sein. Man guckt schließlich nicht ständig auf die Uhr, wenn man noch ein wenig mit den anderen Jungen bolzt, bevor man heimgeht – wer denkt denn ans Mittagessen, wenn Dogan seinen Fußball mit in die Schule gebracht hat!
Aber Märten hätte auf jeden Fall warten müssen, drüben an der Bank, wie er das sonst immer tut. Damit Jörg auf ihn aufpassen kann. Das hat sich Mama schön ausgedacht! Soll sie doch selber mal versuchen einen Jungen auf einer Bank im Auge zu behalten – und dabei gleichzeitig den Ball am Gegner vorbeizudribbeln!
MÄRTEN
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Mama hat diese Woche Tagschicht. Wenn sie im Krankenhaus ist, heißt sie Schwester Claudia und hat keine Zeit für ihre Jungs. Märten findet das ganz in Ordnung. So war es immer, und deswegen darf er heute sogar ein Schlüsselkind sein! Er hat nämlich am Morgen seinem Bruder den Schlüssel abgebettelt. Sonst ist immer nur Jörg das Schlüsselkind, weil er schon in der Vierten ist. Er hat die Verantwortung, sagt Mama. Den Schlüssel macht Jörg dann am Gürtel fest.
Was genau die Verantwortung ist, wusste Märten bisher nicht. Bestimmt etwas ganz Wichtiges, weil Mama dabei immer mit den Augen rollt. Märten sammelt solche Geheimwörter, bei denen man nichts Genaues weiß.
Aber seit heute kennt er die Verantwortung. Das ist die Kette, an der der Schlüssel hängt! Jörg hat nämlich die Kette in der Hand gewogen und gesagt: „Den Schlüssel? Das geht nicht. Ich hab die Verantwortung.“
Märten darauf: „Die kannst du auch behalten. Ich will ja nur den Schlüssel!“
„Nein.“ Jörg hat den Kopf geschüttelt. „Schlüssel und Verantwortung gehören zusammen.“ Danach hat er sich aber doch erweichen lassen. Ausnahmsweise, ein einziges Mal! Und hat Märten den Schlüssel samt Verantwortung am Gürtel festgemacht.
Genau gesagt sind es zwei Schlüssel, der Hausschlüssel und der Wohnungsschlüssel. Sie klirren, wenn man rennt. Wenn Märten den Weg abkürzt und über die Baustelle läuft, ist er auf jeden Fall vor Jörg daheim. Und dann ist klar, wer heute die Türen aufsperrt!
JÖRG
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Jörg biegt um die Kirche herum und sieht noch immer keinen Märten. „Na warte!“, knurrt er. „Na warte, Brüderchen!“
Hat sich da nicht eben die Kirchentür bewegt? Jörg schaut schnell zurück. Aber es ist nur Sandra, die wieder mal aus der Kirche kommt. Wo sie doch gar nicht katholisch ist, sondern in Jörgs Ethikgruppe geht, während die anderen Religion haben! Irgendwann muss er sie mal fragen, was sie eigentlich in der Kirche macht. Aber im Moment ist es wichtiger, Märten zu finden.
Ein Kran überragt die Bäume des Parks. Der Park ist kürzer geworden, seit drüben die große Baustelle ist. Durch den Park, das war immer der direkte Weg nach Hause. Aber weil man sich an der Baustelle schmutzige Schuhe holt und weil einem außerdem etwas auf den Kopf fallen könnte, ein Balken oder ein Ziegelstein, besteht Jörgs Mutter darauf, dass er und Märten einen Umweg machen.
Erwachsene, das weiß man, haben ein paar Probleme. Dazu gehören schmutzige Schuhe und die ständige Angst, auf Baustellen eins auf den Kopf zu kriegen. Wenn es für diese Probleme aber keinen Grund gibt, zum Beispiel bei trockenem Wetter, und wenn kein Kranarm über einem schwebt, dann, findet Jörg, muss auch kein Umweg sein.
Den Kranarm kann er im Moment leider nicht sehen, die Bäume stehen dazwischen. Er müsste erst durch den Park laufen. Ob Märten das gemacht hat? Eigentlich hätte er spätestens hier auf Jörg warten müssen, aber allerspätestens!
Jörgs Wut wächst. Er rennt los. Er lässt den Park links liegen und läuft den Umweg. Denn dass Märten auch noch allein über die verbotene Baustelle geht, kann er sich nun doch nicht vorstellen.
MÄRTEN
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Märten schaut brav zum Kran hinauf, ob auch nichts runterkommt. Deshalb kann er nicht so genau auf die Matschlöcher unter seinen Füßen achten. Ein großes Haus ist aus dem Boden gewachsen, seit er zuletzt mit Jörg hier war. Das Haus kriegt vom Kran eine riesige Kuppel verpasst, nicht auf einmal, sondern in Stücken. Im Moment sieht die Kuppel wie eine halbierte Muschel aus. Das nächste Blech schwebt in der Luft und die Männer auf dem Gerüst warten schon darauf.
Märten steht neben einem Mann, der genauso den Kopf im Nacken hat wie er. „Was soll das eigentlich sein? Wenn das mal fertig ist?“, fragt Märten. Sein Schulranzen zieht ihn fast um.
„Eine Moschee“, sagt der Mann. „Ein Gotteshaus.“
Jetzt haben die Arbeiter das Blech eingefangen und dirigieren es unter Rufen an seinen Platz.
„Ach“, sagt Märten. Eine Muschel, tatsächlich. Und ein Gotteshaus, wie interessant. Das Wort Gott ist sowieso der Hit unter seinen Geheimwörtern. Sein kürzestes Wort. Und noch dazu das geheimnisvollste von allen!
Kein Mensch kann sich Gott vorstellen, behauptet Frau Riedel, seine Lehrerin, man soll es gar nicht erst versuchen. Nun kommt Märten aber auf dem Weg zur Schule immer an der Kirche vorbei. Er soll da ja nicht rein, Mama will es nicht. Aber natürlich war er schon drin. Man muss schließlich wissen, wo man nicht hinsoll. Und wenn Märten doch immer so lange auf Jörg warten muss, weil er selbst mittags früher Schluss hat!
Innen schien die Kirche noch größer als außen. Märten hat nur so gestaunt. Über alles. Dann hat er Gott gesucht. Gefunden hat er ihn nicht. Er selbst hätte sich leicht hundert Mal verstecken können, aber Gott kann ja nicht so klein sein wie er. Und warum sollte sich Gott überhaupt verstecken? Da macht er sich schon vorher unsichtbar, weil Gott nämlich alles kann, wie Frau Riedel erwähnt hat. Von Frau Riedel weiß Märten außerdem, dass die Kirche das Gotteshaus ist.
Im Krankenhaus wohnen die Kranken. Im Mietshaus in der Boldenstraße wohnen Märten, Jörg und Mama und die anderen Mieter. Im Gotteshaus wohnt Gott, das kann nicht anders sein. Und sein Haus heißt Kirche.
Dass Gott nun in ein großes Muschelhaus umzieht, überrascht Märten. Er kann es sich höchstens so erklären, dass es Gott in der Kirche zu kalt geworden ist. Die war ja wirklich eisekalt, als Märten drin war!
Der Mann, der ihm Auskunft gegeben hat, schaut jetzt zu ihm runter. „Moment mal“, poltert er los, „schon wieder einer von euch Bengels? Hast du das Schild nicht gesehen? Du bist doch schon in der Schule und kannst lesen!“
Sicher hat Märten das Schild gesehen, es stand ja von Anfang an da: „Betreten der Baustelle verboten“.
„Es ist nämlich der kürzeste Weg nach Hause“, erklärt Märten. „Und das V haben wir noch gar nicht gelernt.“
JÖRG
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Jörg läuft die Boldenstraße entlang. Kein Märten in Sicht. Die Nummer neun taucht auf, ein heruntergekommener Block, in dem außer ihnen nur ziemlich alte Leute leben, pingelige obendrein. Zum Beispiel darf man nie vergessen die Haustür abzuschließen. Also ist die Haustür natürlich zu – und Jörg findet keinen Schlüssel an seinem Gürtel.
Er schlägt sich an die Stirn. Heute früh hat er sich doch von Märten überreden lassen! Der kleine Trottel wollte mal ein richtiges Schlüsselkind sein wie in der Geschichte, die er irgendwo gehört hat. Jetzt sitzt er wahrscheinlich oben in der Wohnung und lacht sich eins!
Jörg drückt auf die Klingel, bis sein Daumen weiß ist.
Frau Zecha liegt auf einem Kissen im Fenster. „Du hast doch hoffentlich nicht deinen Schlüssel verloren? Und deinen Bruder dazu? Meine Güte, kannst du rennen!“
Jörg stutzt. Frau Zecha soll zwar blind sein, aber irgendwie kriegt sie alles mit. Märten ist also nicht heimgekommen. „Das ist nur ein Spiel“, sagt er und läuft wieder weg. Die Leute hier hören alles und sehen alles und petzen es am Ende noch seiner Mutter!
Jörg verzichtet auf den Umweg und läuft schnurstracks zur Baustelle – woanders kann Märten nun eigentlich nicht mehr sein. Mitten im Fußballspiel würde er weniger schnaufen als jetzt. Es ist die Angst, dass Märten etwas passiert sein könnte.
MÄRTEN
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Märten guckt erst auf seine Schuhe runter, als er die Baustelle schon hinter sich hat. Auweia! Er sucht nach einem Grasbüschel, um sie sauber zu machen. Aber in diesem Jahr ist noch kein Gras gewachsen. Und das alte vom vorigen Herbst ist voller Hundekacke.
Als Märten den Kopf hebt, sieht er jemanden auf sich zulaufen – Jörg. Aus der falschen Richtung, nämlich von zu Hause! Und mit einem Blick, als hätte er soeben einen Ball am Tor vorbei geschossen!
Märten kriegt das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Bevor sein Bruder auch noch die schmutzigen Schuhe entdeckt, ruft er ihm zu: „Hast du gewusst, dass Gott umzieht? In ein Muschelhaus?“
Jörg hält keuchend an, ein großes Staunen im Gesicht.
„Ich hab das überhaupt nicht erfunden, Jörg, ehrlich nicht, ein Mann hat´s mir gesagt! Das neue Haus dahinten –“, Märten streckt den Arm aus, „wird eine Muschel!“
„Das wird eine Moschee, du Depp.“ Jörg haut ihm den Arm runter und schimpft, weil Märten nicht gewartet hat und auch noch die Abkürzung gelaufen ist.
Märten reibt sich den Arm und speichert das neue Wort. Es muss ein extra langes E haben. „Aber ein Gotteshaus wird das doch?“, fragt er, damit Jörg nicht auf die Schuhe guckt.
„Was?“ Jörg bläst eine Menge Luft aus. „Ein Gottes... Was weiß denn ich. Vielleicht.“ Er packt Märten am Anorak und zieht ihn mit.
Märten würde sich ja gerne beschweren, weil er nie eine klare Auskunft kriegt, wenn er irgendwas wegen Gott fragt. Aber sein Bruder sieht im Moment schon so sauer aus, dass man ihm besser nicht mit einer Beschwerde kommt. „Du, Jörg?“, probiert Märten noch eine Frage. „Ist es wegen der Kälte? Dass Gott aus der Kirche auszieht?“
„Hä?“ Jörg wirft ihm einen Blick zu, stöhnt tief auf und hält sich im Weitergehen die Stirn.
Also falsch getippt. „Warum dann, Jörg, sag?“ Märten stolpert vor Eifer. Aber statt einer Antwort kriegt er nur einen harten Ruck am Anorak. Und das kann er gar nicht leiden. „Dann ... dann frag ich Mama!“
Jetzt fährt Jörg herum und bleibt stehen. „Das machst du nicht!“, flüstert er und klingt nun wirklich sehr, sehr böse. „Du lässt Mama mit deinem Gott in Ruhe, ist das klar, hörst du mich?“
Märten guckt Jörg tapfer in die Augen und nickt. Alles klar. Mit seinem großen Bruder ist heute nicht gut Kirschen essen!
JÖRG
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Die meisten Probleme, die seine Mutter hat, teilt sie mit anderen Müttern, da ist sich Jörg sicher. Ihre ständige Angst vor ein bisschen Dreck oder dass man sich die Ohren abfriert, wenn man mal keine Mütze trägt – so ein Zeug eben.
Aber darüber hinaus hat sie auch noch ein Problem mit Gott. Sie sagt, es gibt keinen. So denkt sie vielleicht als einzige Mutter in Jörgs Klasse.
Fast alle Kinder haben Religion. Die Katholischen hatten letztes Jahr außerdem ein Riesenfest, das hieß Erstkommunion und war wochenlang das einzige Thema. Erstkommunion hin und Erstkommunion her! Und dann die Aufzählung der Geschenke. Schon gar nicht mehr hören konnte man das. Jörg erinnert sich gut an an seine Gefühle, während er jetzt am Herd steht, gekochte Kartoffeln klein schnippelt und in die heiße Pfanne wirft. Drei Leute aus der Ethikgruppe kriegten damals ihre Eltern rum und wechselten nach Religion. Sie wurden feierlich getauft und durften bei allem mitmachen. Blieben außer Jörg und Sandra noch die Türken übrig, Hülya, Aylin, Fatih und Dogan hatten auch keine Erstkommunion. Aber dafür haben sie andere Feste und einen Gott, den sie Allah nennen. Eine Moschee kriegen sie jetzt auch noch und dazu einen eigenen Religionslehrer, sobald die Moschee fertig ist.
Und was hat einer wie Jörg, bei dem eine Atheistin über alles bestimmt und stolz darauf ist, dass sie keinen Gott braucht? Nichts hat er! Nur einen nervigen kleinen Bruder, der jetzt draußen seine Schuhe im Putzeimer schrubben muss, weil er sie so dreckig gemacht hat.
Am liebsten hätte Jörg die Schuhe einfach übersehen. Aber dann hätte seine Mutter nachgefragt und der Kleine hätte vielleicht wieder von seinem Gotteshaus angefangen. Da hat er ihn doch lieber mit Eimer und Bürste hinausgeschickt – weiß der Himmel, was Märten daherreden würde.
Welcher Himmel denn? Jörg steht vor dem Kühlschrank und schüttelt den Kopf. Er nimmt ein paar Eier aus dem Fach. Falls seine Mutter Recht hat und es Gott wirklich nicht gibt, dann gibt es auch keinen Himmel. Es ist nur so eine Redensart. Genauso wie „Du lieber Gott, bin ich erschrocken!“ Einmal ist dieser Ausruf sogar Jörgs Mutter rausgerutscht. Sie war danach ziemlich sauer auf sich. Lieber, hat sie gemurmelt und dazu eine bitterböse Fratze geschnitten.
Weil Jörg dieses Gesicht an ihr fürchtet, verkneift er sich fromme Redensarten.
MÄRTEN
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Märten hat den Eimer vor der Haustreppe stehen. Es gibt da einen Streifen Erde zwischen Haus und Gehsteig. Das Wasser ist schon lehmbraun, aber an den Schuhen klebt immer noch was. Märten taucht die Bürste wieder ein. Er ist barfuß, damit er nicht noch ein Paar Schuhe dreckig oder nass macht. Irgendwie ist das Wasser inzwischen überall. Den Schuh in seiner Hand muss er auch schon wieder ausleeren.
Märtens Füße sind eisig. Zwar zwitschern heute die Vögel über ihm im kahlen Baum, aber bis zum Boden ist der Frühling noch nicht gekommen. Höchstens vielleicht bis zum Fenster von Frau Zecha. Die hält ihr Gesicht in die Sonne und plaudert mit Märten, ohne ihn anzusehen. Sie kann sonst wo hingucken, aber sie kriegt alles mit. Wenn jemand einen Wassereimer schleppt. Wenn Wasser herausschwappt. Wenn die Bürste spritzt. Wenn der Dreck tief im Turnschuh sitzt, sodass man fürchterlich schrubben muss. Ja, und sie hört sogar, dass Märten barfuß ist!
„Jetzt schwindelst du aber“, sagt Märten. „Weil ich es nämlich gar nicht höre.“
„Ja, eben.“ Frau Zecha lacht. „Deine Schuhe, die würde ich hören. Und weil sie weg sind, weiß ich, dass du barfuß bist. Ist dir das nicht zu kalt? Wo die Sonne doch erst seit heute rausspitzelt!“
Märten nickt und reibt seine Fußsohlen aneinander, das ist Antwort genug, wenn jemand alles hört. „Du, Frau Zecha? Weißt du übrigens, dass Gott umzieht?“
„Ach?“, sagt Frau Zecha ernsthaft. „Wohin zieht er denn?“
„In die Moschee! Weg von der Kirche! Und weißt du noch was? Dort ist es nämlich eisekalt, in der Kirche. So kalt wie meine Füße. Fühl mal.“ Märten tapst zur Hauswand und versucht einen Fuß hochzurecken. Aber das Fenster ist zu weit oben.
„Mach lieber, dass du fertig wirst“, sagt Frau Zecha, „ich höre deinen Bruder kommen. Die Geschichte erzählst du mir ein andermal.“
Märten geht zum Eimer zurück und beguckt sich das braune Wasser. Na, die Brühe lässt er auf jeden Fall für Jörg stehen, damit der sieht, wo der Schmutz jetzt ist. Die Schuhe und die Bürste müssen auf die Heizung.
Märten drückt die Haustür auf, in der ein Steinchen klemmt. Jetzt erst kann er Jörg auf der Treppe hören. Da hat ihm Frau Zecha ganz schön was voraus! Wenn man vom Blindsein so gute Ohren kriegt wie sie, sollte Märten auch öfter mal die Augen zumachen ...
„Bist du fertig?“, sagt Jörg. „Das Essen wartet! Mensch, Märten, du Döskopp, mach die Augen auf – du vertropfst Wasser!“ Jörg läuft nach draußen, nimmt den Eimer und leert ihn in den Gully.
Märten lässt die Augen zu. Er spürt das Tropfwasser unter seinen nackten Füßen, er kann genau hören, was Jörg tut – es geht wirklich ohne!
Aber dann kommt die Treppe zu früh. „Aua“, sagt Märten und reißt die Augen auf. Seine dumme große Zehe hat anscheinend nicht begriffen, dass Märten gerade blind ist. Na, da ist sie aber selber schuld!
JÖRG
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Jörg hat die Küche aufgeräumt, seinen Bruder mit dem Wischlappen ins Treppenhaus geschickt, Hausaufgaben gemacht und das Fernsehprogramm überflogen. Jetzt kocht er Tee, zwei Kannen voll. Wenn seine Mutter von der Arbeit kommt, hat sie Lust auf viel Tee. Sie setzt sich dann an den Tisch, legt die Beine auf einen Stuhl und nimmt ihre Lieblingstasse in beide Hände. Zufrieden beugt sie das Gesicht über den Dampf und man kann förmlich sehen, wie der Tag von ihr abfällt, wie sie nicht mehr jedermanns Schwester Claudia ist, sondern nur noch die Mutter ihrer Jungs. Was gibt es Neues?, sagt sie, sobald sie den ersten Schluck getrunken hat. Erzählt mal!
Ihre Tasse, auf der Claudia steht, darf niemand anfassen, die spült sie immer selbst ab. Papas allererstes Geschenk! Damals waren sie noch gar nicht verheiratet. Später hat sie noch andere Sachen von ihm gekriegt, aber die Tasse ist ihr Liebstes geblieben. Jörg hat sich schon heimlich umgesehen, nur für den Fall der Fälle, dann könnte er die Tasse ersetzen. Aber es gibt sie anscheinend nach so vielen Jahren nicht mehr.
Wenn seine Mutter nach Papas Tod nicht ihn und Märten gehabt hätte, wäre sie übergeschnappt. Das ist haarscharf ausgegangen damals. Jörg weiß es, weil sie es ihm später gesagt hat. Man muss sich das aber auch vorstellen: Da liegt sie mit dem neugeborenen Märten in ihrem Klinkbett und freut sich irrsinnig auf Papa, dem sie den kleinen Frosch zeigen will. Papa kommt und kommt nicht. Nach Stunden erscheint die Ärztin in Begleitung der halben Schwesternschar, weil sie sich allein nicht traut. Sie sagt Mama, dass Papa auch in der Klinik liegt. Weil ihm einer von links ins Auto gefahren ist. Aber er wird Märten nicht mehr sehen können ...
Es ist so furchtbar, dass Jörg ein Zucken im Gesicht kriegt, sobald er daran denkt. Er selbst war ja bei Oma und hat nichts mitbekommen. Oma hatte ihm freudestrahlend verkündet, sein kleiner Bruder sei da und er dürfe ihn bald besuchen. Nur kam es nicht zu dem Besuch, sie erfand Ausreden. Wenn er Papa anrufen wollte, wurde sie hektisch und fuhr mit ihm in den Zoo oder in den Erlebnispark. Ihr Gesicht war verheult und ihr Lächeln so verkrampft, dass Jörg Angst vor ihr bekam und lieber gar nichts mehr fragte. Er durfte dann in einen fremden Kindergarten, denn Omas Urlaub war vorbei. Dort kam er in die Gruppe von Bille. Die nahm ihn eines Tages auf den Schoß und erzählte ihm, sein Papa sei im Himmel. Es war ein sehr langes Gespräch und keines der anderen Kinder war dabei.
Kurze Zeit später durfte Jörg nach Hause zurück. Er merkte, dass Bille die Wahrheit gesagt hatte, sein Vater war nicht mehr da. Seine Mutter weinte ständig und drückte ihn an sich, wenn sie nicht gerade schlief oder mit dem Baby beschäftigt war. Ein einziges Mal nur fragte Jörg sie, ob Papa wirklich für immer im Himmel bleiben müsse oder ob er nicht wenigstens an Weihnachten ... Sie ließ ihn nicht mal ausreden. Sie kriegte irre Augen und eine heisere Flüsterstimme, mit der sie ihm erklärte, Papa sei weg, gestorben, und würde ganz sicher niemals wiederkommen, und das mit dem Himmel sei Quatsch.
Später, als Jörg zur Schule ging und Ethik hatte statt Religion, redete seine Mutter mit ihm über ihre Ansicht. Da waren sie schon hierher gezogen. Ihre Jungs sollen nicht mit einer bestimmten Religion aufwachsen wie sie. Sie sollen frei bleiben und sich eines Tages selbst entscheiden dürfen, was sie glauben oder nicht glauben wollen, sagte sie.
Jörg fing allerdings jedes Jahr davon an. Den letzten Versuch unternahm er vor der Erstkommunion seiner Klasse. „Alle glauben an Gott“, warf er seiner Mutter vor. Daraufhin verlor sie die Beherrschung. Jörg erinnert sich an jedes Wort, das sie schrie. „Ich habe mir immer vorgestellt, dass es einen guten Gott gibt. Aber dieser so genannte gute Gott, der hat für mich nach Papas Tod eine Monsterfratze bekommen! Denkst du, es ist schön, sich da oben ein Monster vorzustellen?“ Sie war so außer sich, dass Jörg seitdem lieber den Mund gehalten hat.